«Viele haben nochmal ein Drittel ihres ganzen Lebens vor sich»
29.04.2024 Rheinfelden, Gesundheit, FricktalAnlaufstelle in allen elf Bezirken: Pro Senectute Aargau
Die NFZ hat Sibylle Freiermuth von der Pro Senectute Aargau zum Gespräch getroffen. Sie leitet die Beratungsstelle des Bezirks Rheinfelden. Ein Gespräch über das Alter und das Altern.
Ronny Wittenwiler
Manchmal, sagt Sibylle Freiermuth, halte sich das Klischee hartnäckig. Sie spricht vom Vorurteil, dass die Pro Senectute ausschliesslich eine Organisation für Betagte und Hilfsbedürftige sei. «Von meinen Geschwistern sind mittlerweile deren fünf 60Plus. Sie weichen alle vor mir zurück, wenn ich ihnen sage, dass sie zu meinem Zielpublikum gehören.» Freiermuth lacht und meint dann: «Emotional fühlen sich viele noch gar nicht zugehörig – bis sie sehen, was wir an Kursen und Freizeitangeboten alles zu bieten haben.» Damit wären wir mitten im Gespräch.
NFZ: Sibylle Freiermuth, was sind das für Kurse?
Sibylle Freiermuth: Wir bieten Sprachkurse an, Kurse zur digitalen Nutzung, Gesang- und Instrumentalkurse, Lebensund Alltagsgestaltung, Tanzund Bewegungskurse. Weitere Beispiele sind Pesto mit Wildpflanzen, Malen mit Herz, Hand-Chakra – kreative Dinge, manchmal auch verrückte Dinge. Es gab auch schon «Bügeln für Männer ab 60» und, quasi zur Belohnung, einen Bierbraukurs. (lacht). Und dann sind da noch die vielen Sportgruppen wie Fitness und Gymnastik, Rad und Mountainbiken, Wandern und vieles mehr.
Das klingt nach einer neuen Lust am Altwerden.
Unser Zielpublikum beginnt ab sechzig. Wir unterscheiden grob gesagt zwischen einem «jungen Alter» und einem «betagten Alter». Viele Jungsenioren sind heutzutage fitter, nicht mehr so schwer gezeichnet. Nie war die Lebenserwartung höher. Anders als früher, haben bei Eintritt ins Pensionsalter viele Menschen im Idealfall nochmals einen guten Abschnitt und damit locker ein Drittel ihres ganzen Lebens vor sich. Das ist anders als früher. Selbst verständlich: Ausnahmen gibt es leider immer wieder.
Sie bieten aber nicht nur Freizeitkurse an.
Wir beraten in vielerlei Hinsicht der Lebensgestaltung, bieten Unterstützung in finanziellen Fragen, punkto Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag. Auch sind wir präventiv tätig, etwa gegen die Vereinsamung älterer Menschen. Einsamkeit ist ein grosses Thema.
Wie holt man einsame Menschen ab?
Das ist sehr schwierig. Menschen, die sich bewusst zurückziehen, ob es ihnen guttut oder nicht, können wir nicht bedrängen. Wir bieten aber zum Beispiel allen 75-Jährigen an, sie zum Geburtstag durch unsere Ortsvertretungen in den Gemeinden besuchen zu lassen.
Sind die Fragen und Herausforderungen rund ums Altern andere als noch vor zwanzig, dreissig Jahren?
Natürlich ist die Digitalisierung eine tolle Entwicklung. Aber es gibt Senioren, die kommen da nicht mehr mit. Sie fahren vielleicht noch Auto, können aber kaum irgendwo parkieren, weil man überall ein Smartphone braucht, um zu bezahlen. Automaten an den Bahnhöfen werden demontiert. Da wird es immer schwieriger für Leute, die keine Angehörigen und kein Umfeld mehr haben, die sie unterstützen. Das ist die Kehrseite der Digitalisierung: Menschen ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, weil sie nicht mehr genügend daran teilhaben können.
Sie bieten Haushalts- und Mahlzeitendienst an. Wenn Kochen, Einkaufen und andere alltägliche Dinge zuerst mühsamer werden und dann plötzlich nicht mehr gehen: Ist das immer ein trauriger Moment für Betroffene?
Das ist ein wichtiger Aspekt. Wie bei allen Altersgruppen gibt es die Optimisten, die das Glas halbvoll sehen und eine innere Zufriedenheit haben; und es gibt welche, die hadern, die vielleicht auch enttäuscht sind vom Leben. Unsere Haushälterinnen, in Rheinfelden sind es allein rund vierzig, berichten uns immer wieder von aufgestellten Seniorinnen und Senioren. Genauso werden aber auch traurige Dinge an sie herangetragen. Es ist sicher auch schwierig zu sehen, wenn gewisse Dinge im Alter nicht mehr funktionieren.
Was bedeutet für Sie würdevolles Altern?
Ein Leben in Selbstbestimmung und dass man Wertschätzung und Respekt erfährt.
Das Selbstbestimmte steht oft im Widerspruch zum Thema Demenz.
Das ist ein riesiges Feld. Unsere Demenzberatung unterstützt Angehörige, weil deren Beanspruchung enorm steigt, das ist für sie sehr fordernd. Wir beraten punkto Unterstützungsmöglichkeiten und versuchen Angebote aufzuzeigen, die Angehörigen eine Entlastung bringt. Wir machen aber keine Pflege. Das ist der Unterschied zur Spitex, den es oft zu erklären gilt: Wir machen Dienst für den Menschen und nicht am Menschen.
Sie nennen «Wertschätzung» und «Respekt» als Kriterium für ein würdevolles Altern. Werden alte Menschen in diesem Land genügend respektiert?
Darüber möchte ich mir kein kategorisches Urteil bilden. Meine eigene Erfahrung aber ist: ja.
Wenn ich etwa bei unserem Projekt «Generationen im Klassenzimmer» oftmals Schülerinnen und Schüler an den Lippen hängen sehe, wenn die Senioren erzählen, und wie die jungen Menschen Anteil nehmen und dann merken, dass es einmal eine ganz andere Welt gegeben hat – dann zeigt das mir, wie sehr Generationen voneinander lernen.
Sie sind 55-jährig. Gehören Sie zu den Alten oder den Jungen?
Mittelalter, würde ich sagen (lacht). Mit 60 bin aber auch ich dann langsam Seniorin.
Wie alt wollen Sie werden?
Ich habe kein Wunschalter. Mein Wunsch ist es, gesund alt zu werden. Wenn man krank alt wird, ist es weniger schön. Dann lieber Qualität vor Quantität.
Pro Senectute: ein paar Zahlen
Am Anfang stand die Frage, ob man von der Pro Senectute denn Wunder erwarten könne. Sibylle Freiermuth überlegt einen Augenblick. «Für manche ist es vielleicht eines – weil sie diese vielfältige Unterstützung nicht erwartet hätten.» Nebst einem umfangreichen Kurs- und Beratungsangebot ist die Pro Senectute auch ein Arbeitgeber. «Wir sind offen für agile, dynamische Jungpensionäre, die ihre Kompetenzen in verschiedenen Funktionen einbringen. Natürlich können sich auch jüngere Jahrgänge bei uns engagieren.» Die Pro Senectute Aargau betreibt in allen elf Bezirken des Kantons eine Beratungsstelle.
Aus den 2023-Jahres-Kennzahlen der Pro Senectute Aargau geht hervor, dass im Aargau 183 800 Menschen leben, die über sechzig Jahre alt sind. Im besagten Jahr 2023 hat die Pro Senectute Aargau…
4448 Seniorinnen und Senioren in der Sozialberatung beraten.
163 248 Stunden im Bereich Hauswirtschaft und Betreuung geleistet.
12 468 Lektionen im Sport erteilt.
5220 75-Jährige von Ortsvertretungen besucht.
66 834 Mahlzeiten verteilt.
546 614 Franken für einmalige und periodische Einzelhilfe ausgerichtet.
2567 Steuererklärungen für Seniorinnen und Senioren ausgefüllt.
Hinzu kommen…
31 Freizeitgruppen und 162 Mittagstische mit über
4330 Teilnehmenden.
379 Freiwillige im Projekt «Generationen im Klassenzimmer» (rw)