«Ich lebe in der Schweiz und will hier helfen»
20.10.2017 Landwirtschaft, Porträt, Oberes Fricktal, Laufenburg, PersönlichVon Simone Rufli
«Bei meiner Rückkehr von der Alp habe ich mich am meisten auf eine heisse Dusche gefreut – und natürlich auf meinen Freund. Schwierig war es hingegen, wieder mit der Hektik im Alltag klarzukommen.» Gerdi Oeschger sitzt am Tisch. Durch die lange Fensterfront scheint die Abendsonne aus dem Badischen über den Rhein hinein in die Altstadt-Wohnung am Laufenplatz. Sie sucht nach den richtigen Worten, windet sich ein bisschen, dann lacht sie: «Es war der Gestank, an den ich mich zuerst gewöhnen musste. Dann an die vielen Fliegen und daran, dass ich den ganzen Tag dreckig war. Es gab eine Dusche, meist aber mit kaltem Wasser.» Ihr Zimmer sei sehr schön gewesen, «aber es lag direkt über dem Stall. Der Stier, die Kälber und eine kranke Kuh verbrachten die Nacht immer im Stall. Ich bekam jede Bewegung, jedes Geräusch und jeden Geruch unmittelbar mit.»
Ihren Worten folgt ein vielsagender Blick. An eine Nacht erinnert sie sich ganz besonders: «Es zog ein heftiges Gewitter über das Berner Oberland hinweg. So heftig, dass alle Kühe von der Weide kamen und in den Stall drängten. Wie auf der Alp üblich, trugen die Kühe ihre Glocken. Das Gewitter, das Gebimmel, der Geruch – das war eine Nacht!»
Gerdi Oeschger liebt die Berge. «Ich kann mich an der Schönheit der Berge kaum satt sehen.» Sie mag Hüttentouren und Wanderungen. Aufgewachsen ist sie in Badisch Laufenburg. Seit fast 30 Jahren arbeitet sie in der Schweiz, seit zehn Jahren als Sachbearbeiterin und sie wohnt mit ihrem Partner seit fünf Jahren in Laufenburg/Schweiz direkt am Rhein. Davor wohnte sie fünf Jahre in Kaisten. Sie ist Wander-, Landschafts- und Naturführerin im Schwarzwaldverein und bemüht sich hierbei auch bei einigen Wanderungen «den Deutschen die Schweiz näher zu bringen», wie sie schmunzelnd verrät.
Arbeit statt Geld
Doch wie kam sie auf die Alp? Gerdi Oeschger erzählt von einem Fernsehbericht über Bergfamilien, über die viele Arbeit, die sie den Sommer durch hätten und das wenige Geld. Sie erinnert sich an einen Aufruf, Bergbauern zu unterstützen. Obwohl das alles einige Zeit her ist, setzten sich die Erinnerungen in ihrem Kopf fest, waren die Bilder aufs mal wieder da und mit ihnen die Frage: «Soll ich eine Bergfamilie für eine gewisse Zeit unterstützen? Ich hätte das auch mit einer Spende machen können, doch weiss ich dann, ob das Geld seinen Zweck erfüllt?» Lieber wollte sie selber anpacken.
Dann kam der 50. Geburtstag. «Ich dachte, mit 50 will ich etwas Spezielles machen.» Helfen, anpacken, aber wo? Google war mit Vorschlägen zur Stelle. «Eine der ersten Seiten, die ich im Internet fand, war jene der Caritas Schweiz», erzählt Oeschger. «Caritas steht für mich für Vertrauen, für Glaubwürdigkeit, warum weitersuchen?» Jetzt ging es darum, den Kanton auszusuchen, die Arbeiten festzulegen, die zu verrichten sie bereit war und dann per Telefon den ersten Kontakt mit einer Bergbauernfamilie herzustellen. «Man weiss ja nie, ob die Chemie stimmt. Es muss zwischenmenschlich schon einigermassen stimmen, wenn man zwei Wochen lang auf engem Raum zusammen verbringt, fernab der Zivilisation», gibt Oeschger zu bedenken.
Das Gespräch fand statt, das Gefühl war gut. Region und Alp bestimmt. Und so fuhr Gerdi Oescher an einem schönen Sonntag im August mit ihrem Cabrio an den Brienzersee, nach Iseltwald. «Für mich kam nur eine Alp in der Schweiz in Frage. Ich lebe hier und will hier helfen», erklärt sie ihre Wahl. «Von Iseltwald fuhr ich dann rund eine Stunde über schmale Schotterwege und an Abgründen entlang hoch zur Alp.» Die Bäuerin hatte ihr vorgeschlagen, sie unten im Tal abzuholen. Oeschger hatte dankend abgelehnt – «ich wollte doch keine Umstände machen» – und bekam auf der Fahrt einen Vorgeschmack auf das Abenteuer, das sie erwarten sollte. Sie habe sich bei dem Ehepaar schnell wohl gefühlt, doch einsam sei es gewesen. Kaum Wanderer, keine Nachbarn, ein paar wenige Gäste nur. «Trotzdem war es wunderschön und ich würde sofort wieder hingehen.»
Dem Alpöhi aus dem Gesicht geschnitten
Einmal in der Woche fuhr die Bäuerin ins Tal, holte Nachschub. Der Bergbauer, gesundheitlich angeschlagen und auf Hilfe dringend angewiesen, erinnerte sie optisch stark an Heidis Grossvater, den Alpöhi. «Das Paar lebt mit den eigenen Tieren und jenen von anderen Bauern zehn Wochen auf dieser Alp. Alleine können sie die Arbeit nicht bewältigen. Vor und nach mir waren andere Hilfskräfte da», erzählt Oeschger. «Ich esse noch immer vom Käse und der selber gemachten Butter. Das schmeckt halt schon ganz anders, als hier gekauft.»
Zwei Stunden verbrachte sie jeden Tag damit, die Käselaiber zu wenden und mit Salzwasser einzureiben. Ihre schönste Aufgabe sei es gewesen, die Kühe von der Weide zu holen. «Dafür brauchte ich eine bis anderthalb Stunden, so weitläufig war das eingezäunte Gebiet. Ich bin froh, dass ich helfen konnte. Bei allem, was man tut, zu spüren, dass man gebraucht wird, ist ein gutes Gefühl.» Gerademal einen freien Tag gönnte sie sich. «Da bin ich aufs Faulhorn hinauf gelaufen.»
Gerdi Oeschger hat ein Buch mit auf die Alp mitgenommen. Darin gelesen hat sie keine einzige Seite. Morgens um 6 Uhr fing sie mit der Arbeit an, um 8 Uhr am Abend fiel sie todmüde ins Bett. Und in den kleinen Pausen zwischendurch gab es schliesslich etwas viel Wichtigeres zu tun, als den Kopf in ein Buch zu stecken: «Ich weiss nicht, vielleicht kennen Sie das Gefühl, wenn Sie einfach nur dasitzen, in die Bergwelt hinaus schauen, staunen und immer wieder etwas Neues entdecken?»