Ein Dorfpfarrer mit vielen Ambitionen

  23.11.2022 Kaiseraugst, Persönlich

Andreas Fischer ist reformierter Pfarrer in Kaiseraugst

Wenn man bei Pfarrer Andreas Fischer und seiner Frau Jutta Wurm im reformierten Pfarrhaus in Kaiseraugst anklopft, kann es durchaus sein, dass jemand anderes die Tür aufmacht. Die beiden haben vor sieben Monaten eine ukrainische Familie bei sich aufgenommen.

Catherine Hossli

Andreas Fischer stammt aus einer Pfarrersfamilie. «Es gibt eine rührende Anekdote», erzählt er. «Mein Ururgrossvater war Müller. Eines Tages brannte seine Mühle nieder, man munkelte, der neidische Nachbar habe seine Finger im Spiel gehabt. Jedenfalls arbeitete er von da an als Absinth-Kontrolleur im Val-de-Travers, die Familie fristete ein ärmliches Dasein. Immerhin reichte das Geld, dass das jüngste der fünf Kinder studieren konnte, aber nur Theologie, weil dies das billigste Studium war. Und so wurde mein Urgrossvater Pfarrer, und mein Grossvater, Vater und ich haben die Tradition weitergeführt».

Andreas Fischer wurde 1966 als ältester von drei Brüdern in Frauenfeld geboren. Eigentlich wollte er Germanistik und Philosophie studieren, aber der Sinneswandel kam beim Marschieren im Militär: «Ich hatte immer eine Gideon-Bibel in meiner Tasche und habe auf den Märschen Psalmen und die Bergpredigt gelesen. Die Texte haben mich gepackt, und so entschied ich mich für die Theologie. Da mich Sprachwissenschaft interessiert, hatte mein Studium eine gewisse akademische Tendenz. Später habe ich für die neue Zürcher Bibel den Hebräerbrief übersetzt. Noch heute finde ich die wissenschaftliche Theologie spannend, im Moment studiere ich das Markus-Evangelium, die Lektüre von biblischen Texten und Kommentaren ist so etwas wie mein Lebenselixier».

Bei seiner ersten Predigt mitten im Studium wurde Andreas Fischer sozusagen ins kalte Wasser geworfen: Sein Vater, Pfarrer in Zürich, sagte eines Tages: «Mach doch mal eine Predigt!» Das habe ihn geprägt, erzählt Fischer. «Ich merkte, dass eine Predigt nicht einfach ein wissenschaftlicher Vortrag ist. Dass es da um meine ganze Existenz geht, um das, was mich unbedingt angeht.» Kurz darauf begann er zu meditieren. Im Lassalle Haus Bad Schönbrunn ob Zug, dem Bildungshaus der Jesuiten, kam er bei Pater Niklaus Brantschen in Kontakt mit dem streng ritualisierten Tagesablauf der Zen-Meditation.

Für einmal der Porträtierte
In den folgenden Jahren lebte und arbeitete er in verschiedenen Bildungshäusern, bot Fastenkurse, Festtagsretraiten, Männerseminare an, unter anderem im «Fernblick» in Teufen AR, dem Bildungshaus des Katharina-Werks, einer ökumenischen Gemeinschaft, der er neun Jahre lang angehörte. Dort lernte er seine spätere Frau Jutta Wurm kennen. Jeweils im Sommer fanden dort internationale Peace Camps statt, mit Menschen aus Slums und Kriegsgebieten. «Dass wir nun mit einer ukrainischen Familie zusammenleben, erinnert uns manchmal an jene Zeit», sagt er. Ausserdem schrieb Fischer für verschiedene Kirchenzeitungen und das St. Galler Tagblatt, besonders Porträts, wie sie ab und zu auch in der NFZ erscheinen. «Es ist ungewohnt, der Porträtierte und nicht der Porträtierende zu sein», sagt er lachend. Dann kam eine Anfrage für eine Vertretung als Pfarrer, die er annahm. Es war Winter, eine heftige Grippewelle ging um. Während eines Monats hatte er drei, vier Beerdigungen pro Woche, Er spürte, dass diese Tätigkeit tief sinnhaft ist und ihm Freude macht. Menschen in diesen intensiven Momenten im Leben zu begleiten, das war genau sein «Ding». Bald darauf, im Jahr 2006, trat er seine erste Pfarrstelle an in der Kirchgemeinde Schwamendingen, heiratete seine grosse Liebe Jutta und lebte und arbeitete mit ihr zusammen in jenem multikulturellen Quartier in Zürich-Nord.

Eines Tages kam eine Anfrage von einer Bekannten aus Rheinfelden, ob er nicht jemanden kenne, der Interesse hätte, eine Kirchgemeinde namens Kaiseraugst zu betreuen. Der Beschrieb war so attraktiv, dass sich «Fischer und Wurm», wie man das Pfarrpaar hier scherzhaft nennt, kurzerhand selber auf die Stelle bewarb. Im Sommer 2015 nahmen die beiden ihre Arbeit in Kaiseraugst auf, in einem «Haus, in dem man Gottesdienst feiern und essen und trinken und diskutieren und unterrichten, Bilder ausstellen und Musik hören kann. Eine Kirche, in der man ein Stück Alltag lebt» – so hatte Jürg Fahrni, der erste Kaiseraugster Pfarrer, vor über fünfzig Jahren das Konzept des Kirchgemeindehauses skizziert.

«Im Pfaff sin Aff»
Schon beim ersten Bewerbungsgespräch mit der Kirchenpf lege fand die Grundsteinlegung zum inzwischen legendär gewordenen Fasnachtsgottesdienst statt. Pfarrerin Esther Borer, Fischers Vorgängerin, habe die Tradition des Fasnachtsgottesdienstes mit der lokalen Gugge «Grossschtadtchnulleri Chaiseraugscht» ins Leben gerufen, wurde ihm gesagt. Ob er denn offen wäre für derartige Aktivitäten? Seine Frau Jutta hatte sogleich die blendende Idee, mit einer Handpuppe fasnächtliches Treiben in den Gottesdienst einzubringen. Der Affe Theobald, «im Pfaff sin Aff», war geboren. Sein Debüt gab er mit folgendem Vers:
Die Affen rasen durch das Kaff,
es luegt verduzzt de Zürcher Pfaff:
Gönd Affe neuerdings au z Chile?
Klaar, / isch mir gseit woorde, /
jedes Jaar / chömeds i Horde
zum Schpile und zum Chille.
Und wänn de Pfarrer seig en Nätte,
dänn deiges im z lieb sogar Bätte.

Auch Gottesdienste, bei denen nicht die Predigt, sondern diverse Ateliers im Zentrum stehen, Meditationsangebote, Taizéfeiern sowie Konzerte und Kunstausstellungen finden im reformierten Kirchgemeindehaus Kaiseraugst statt. Noch bis 27. November kann die Benefiz-Ausstellung «Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen» der kürzlich verstorbenen Therese Frei-We betrachtet werden. Fischer schwärmt: «Wir haben unglaublich gute Musikerinnen und Musiker in unserer Kirchgemeinde. Gesang, Tanz, spirituelle Angebote und die meditative Atmosphäre sind Jutta und mir sehr wichtig.» Andreas Fischer ist ein Nachtmensch. Seine Predigten entspringen seiner Feder, wenn alle anderen schon schlafen. «In der Nacht hat man Ruhe, dann kann ich arbeiten», sagt er. «Aber am Morgen schlafe ich lange aus. Aber das ist kein Problem, denn die Gemeindeglieder wissen das, sie kennen mich. Seit kurzem singen Jutta und ich im lokalen Gospelchor mit. Ich bin unheimlich gern «Dorfpfarrer», ich mag die Menschen und das Dorfleben hier».


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