«Man sieht den Menschen die Dankbarkeit an»

  18.11.2020 Magden, Wohltätigkeit, Persönlich

Seit zehn Jahren koordiniert Hans Oesch Hilfslieferungen im Fricktal

Nachdem Paulette und Rolf Küng Cartons du Coeur im Fricktal aufgebaut hatten, übernahm vor zehn Jahren der Magdener Hans Oesch mit drei bis vier weiteren Freiwilligen die Sammelkoordination und Lieferungen. Während letztes Jahr mit Hilfe des Lions Club Fricktal sechs Tonnen Lebensmittel gesammelt werden konnten, ist man im Corona-Jahr 2020 mehr denn je auf Geldspenden angewiesen.

Clara Rohr-Willers

«Der verrückteste Fall war gleichzeitig mein allererster», erinnert sich Hans Oesch und beschreibt eine Lieferung an eine 40-jährige Frau, die von heute auf morgen mit ihren drei Töchtern allein gelassen wurde. «Sie erzählte mir, dass ihr Mann am Freitagabend Zigaretten holen wollte und anschliessend mit allem, Geld, Bankbüchlein und Auto verschwunden ist.» Der 81-jährige Magdener habe mehrere Wochen benötigt, um die Begegnung zu verarbeiten. «Das Problem war, dass die Frau ja nicht am Samstagmorgen auf das Sozialamt gehen konnte, sondern bis Montag hätte warten müssen», erklärt Hans Oesch. Zudem dauere es zwei bis drei Wochen, bis bei Ämtern alles abgeklärt sei und reagiert werde. «In solchen Situationen gelingt es Organisationen wie Cartons du Coeur, mit einer unbürokratischen Soforthilfe vor Ort zu sein», schildert der Fricktaler.

Selten sind es die Bedürftigen selber, die nach Hilfe rufen
Menschen, die von Cartons du Coeur Lebensmittelpakete erhalten, sind wie die dreifache Mutter knapp an finanziellen Mitteln und in einer der folgenden Lebenssituationen: auf sich allein gestellt, arbeitslos, suchtgefährdet, mit der IV kämpfend. Ein von Cartons du Coeur geliefertes Hilfspaket enthält Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs, welches jeweils individuell der Haushaltsgrösse angepasst ist: 25 kg für eine Person, 40 kg für zwei und 60 kg für vier Personen und mehr. «Um Betrug zu vermeiden, ist eine Lieferung pro Haushalt in der Regel nur alle drei Monate möglich», erklärt Hans Oesch. Cartons du Coeur widmet sich bewusst der Bevölkerung hierzulande, und dies unabhängig von der Nationalität. Von der Unterstützung ausgeschlossen sind einzig Asylanten, da diese von Bund und Kanton Unterstützung erhalten.

«Meistens geraten Menschen schleichend in die Armut», beschreibt Oesch. Die Annahme, dass die Mehrheit der Betroffenen selber bei Cartons du Coeur um Hilfe bitte, sei falsch. «Es sind Gemeinden, Sozial- und Pfarrämter oder schlichtweg Nachbarn, die Cartons du Coeur anrufen, um sich für jemanden einzusetzen.» So war es auch bei der dreifachen Mutter eine Nachbarin, die ihr von der Organisation erzählt hatte.

Heute ist Armut weniger sichtbar
Es sei immer wieder erstaunlich, dass ein Drittel der Lieferungen sogenannte Erstlieferungen seien, heisst es auf der Website von Cartons du Coeur Aargau. «Armut ist ein Tabuthema», erklärt Hans Oesch. «Gerade in unserer anonymen Gesellschaft, in der viele eher auf ihr Handy als auf die Menschen um sich herum achten, fallen Hilfsbedürftige kaum auf», sagt der gebürtige Berner, der seit 40 Jahren mit seiner Familie in Magden wohnt. «Wir alle haben Potential zum Egoismus», schildert der gelernte Kaufmann. Das Sensorium für die Bedürfnisse anderer müsse fortwährend aktiviert werden. «Mein Engagement bei Cartons du Coeur bringt mich dazu, offen zu bleiben», beschreibt Oesch. Vorwürfe anderer, dass manche doch nur schmarotzen und die Hilfsorganisation ausnutzen wollten, höre er selten und wenn, gelte es, sich in Gelassenheit zu üben. Abgesehen von wenigen Quartieren in grösseren Gemeinden, sei es auf seinen Lieferungstouren zwischen Rheinfelden und Schupfart von aussen nicht offensichtlich, wie es den Menschen gehe. «Während sich Armut heute besser verstecken lässt, wusste man im ländlichen und weniger bevölkerten Fricktal früher um Privilegien und Armut anderer oder sah es anhand des Haushalts und der getragenen Kleider», erinnert sich Oesch. 2019 lieferte Cartons du Coeur im Aargau 80 Tonnen Lebensmittel. Dies entspreche etwa vier Eisenbahnwagen. Eine Zahl wie diese zeigt, dass Armut auch heute ein Thema ist.

«Ich bin zufrieden, wenn ich Menschen eine Freude bereiten kann»
«Es beschäftigt, dass es gewissen Menschen nicht so gut geht wie einem selbst», sagt Hans Oesch. Nach jahrelanger Arbeitstätigkeit als Kaufmann und einer Weiterbildung als Verkaufsleiter gründete er 1985 eine Handelsfirma, die heute sein Sohn führt. «Ich bin zufrieden, wenn ich Menschen eine Freude bereiten kann.» Bei den Lieferungen für Cartons du Coeur komme es immer wieder zu berührenden Begegnungen. «Die Begeisterung gerade von Kindern über die Pakete erinnert an Weihnachten», so Oesch. Immer wieder einmal werde er zu einem Kaffee oder Tee eingeladen und erlebte gar einmal, dass ihm jemand Trinkgeld für die Lieferung schenken wollte. «Manche Menschen, die nichts besitzen, sind grosszügiger als manch andere», beschreibt der 81-Jährige und zeigt einen selbst gebastelten Nikolaus, den er von einem Kind erhielt. «Man sieht den Menschen die Dankbarkeit an», bilanziert Hans Oesch. Und Dankbarkeit sei ein Lohn, der mit Geld nicht aufgewogen werden könne.


Cartons du Coeur ist eine 1993 in Neuenburg gegründete Organisation von Freiwilligen, die Familien und Einzelpersonen in der Schweiz, die sich in finanziellen Notlagen befinden, mit Lebensmitteln beliefern. 1997 wurde die Organisation durch die Eglise Française en Argovie auch im Kanton Aargau aktiviert. Während es im Gründungsjahr 100 Lieferungen waren, sind es heute 1900. Im Fricktal ist es der Lions Club, der sich an der alljährlichen Sammlung darum kümmert, dass möglichst viele Menschen in Supermärkten von Rheinfelden, Möhlin, Kaiseraugst und Frick haltbare Lebensmittel spenden, die Bedürftigen geliefert werden können. Während im letzten Jahr insgesamt sechs Tonnen Lebensmittel gesammelt werden konnten, fällt die diesjährige Sammlung dem Coronavirus zum Opfer. Mit Plakaten vor den Grossverteilern versucht der Lions Club Fricktal, Menschen zu Geldspenden zu motivieren. Das AKB-Konto des «Lions Club Fricktal», auf dem an Cartons du Coeur gespendet werden kann, hat die IBAN CH24 0076 1016 1169 1083 6.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote