«Die Wahlfreiheit kann auch überfordern»
06.01.2019 Frick, Gipf-Oberfrick, LaufenburgHerausforderungen im Alter: ein Gespräch mit Eva Schütz
Die Altersspannweite der Senioren ist gross und ihre Bedürfnisse vielfältig. Und es gibt Senioren, die sie kommunizieren und jene, die sie nicht kommunizieren können oder sich nicht getrauen. Das ist eine Herausforderung für die Pro Senectute, auch für die Leiterin der Beratungsstelle des Bezirks Laufenburg, Eva Schütz.
Bernadette Zaniolo
NFZ: Frau Schütz, der Begriff Senioren wurde und wird oft mit «Altsein» verbunden. Doch heute sind die Senioren «jung». Das ist bestimmt auch für die Pro Senectute eine Herausforderung?
Eva Schütz: Zu einem grossen Teil sind die Senioren heute «jung» und fit. Sie können ihre Erwartungen gut formulieren und gestalten ihre Zeit sehr bewusst. Es gibt aber auch die «jungen», verletzlichen Senioren, die gesundheitliche Probleme oder Brüche in ihrer Lebensbiografie haben. Sie geraten ins Abseits unserer Gesellschaft. Auch diese Gruppe hat Bedürfnisse. Sie ist jedoch bescheidener und oft auch introvertierter. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, welche Bedürfnisse sie haben und wie wir sie abdecken können. Die «jungen», zerbrechlichen Senioren abzuholen ist eine Herausforderung. Zudem: alt und unterstützungsbedürftig zu werden ist nicht cool.
Welches ist die grösste Herausforderung?
Die Pro Senectute hat einen klaren Auftrag vom Bund. Sie soll und muss die Gruppe der «Vulnerablen», also jene Personen, die besonderen Schutz brauchen, speziell im Auge behalten.
Ein attraktives Freizeitangebot zu gestalten ist das eine. Aber welche Themenbereiche «brennen» den heutigen Senioren am meisten unter den Nägeln?
Wir haben Wahlfreiheit. Die enormen Möglichkeiten, die man heute hat, können auch überfordern. So etwa die Wahl der Höhe der Franchise bei der Krankenkasse, den Wechsel zu einer anderen Kasse oder auch zu einem anderen Telefonanbieter. Dazu kommen Traditionen, die aufbrechen, wie etwa das Begräbnis. Das kann Menschen, nicht nur ältere, schnell überfordern. Sie haben Angst davor, sich nicht richtig zu entscheiden. Oft sind auch die Konsequenzen nicht mehr absehbar, so etwa bei Schenkungen oder Erbvorbezügen. Dazu kommen weitere Veränderungen oder Überforderungen, etwa durch die Digitalisierung (E-Banking). Heute ist es kaum mehr möglich eine Theaterkarte ohne Internet zu kaufen. Die Beratungen vor Ort nehmen ab. Die Angst «bildungsferner» zu werden, nimmt im Alter zu. Ebenso ist die Cyber-Kriminalität ein grosses Thema.
«Vertrauen ist lebensnotwendig»
Eva Schütz über Konkurrenz, Ängste, Flexibilität und Finanzen
Alt oder betagt werden kostet, ob daheim oder im Altersheim, sagt Eva Schütz von der Pro Senectute in Frick. Ergänzungsleistungen zu beantragen kann sich lohnen. Viele haben jedoch Hemmungen oder wissen nicht, dass sie Anspruch haben.
Bernadette Zaniolo
NFZ: Die Krankenkassenprämien steigen jedes Jahr. Die monatliche Rente hingegen nicht. Dadurch, dass viele Pensionskassen die Umwandlungssätze senken, haben die Pensionierten Ende Monat noch weniger im Sack. Sie sind jedoch vitaler und unternehmungsfreudiger. Ein neues «Problem»?
Eva Schütz: Ja. Sicher auch ein zunehmendes Problem. Die Schere zwischen arm und reich wird immer grösser. Es gibt Menschen, die nebst ihrer Rente (AHV und Pensionskasse) Vermögen, und somit Reserven zur Verfügung haben. Solchen, die jedoch keine Reserven haben, geht es mit der Zeit an die Existenz. Wenn man Nachrichten, wie etwa von Erhöhung von Krankenkassenprämien oder sinkender Renten liest, kommen Zukunftsängste auf. Diese Angst kann körperlich oder psychisch krank machen.
Dank Angeboten von Spitex, Rotes Kreuz, Pro Senectute sowie Mithilfe von Angehörigen können betagte Menschen immer länger zu Hause bleiben. Wo liegen hier die Herausforderungen?
Bei der Finanzierung. So stellt sich die Frage, wie wir ein gutes flexibles Angebot finanzieren können, für Menschen, die dafür nicht die nötigen finanziellen Mittel haben. Denn die Ressourcen der Gemeinden, des Kantons und des Bundes werden immer knapper. Und wie gelingt es uns als grosse Organisationen, die erforderliche Flexibilität in unserer pluralisierten Gesellschaft zu haben. Dazu kommt, dass das Alter attraktiv geworden ist. Die Konkurrenz durch private Institutionen, die damit Geld verdienen wollen, wächst. Konkurrenz ist zwar auch ein Motor für die Weiterentwicklung; die Risiken bleiben jedoch bei der Allgemeinheit. Es ist schwierig zu unterscheiden, welche Anbieter seriös sind und welche nur aufs Abzocken aus sind. Das führt auch zu einer grossen Verunsicherung, wem man noch vertrauen kann. Vertrauen ist jedoch lebensnotwendig.
Älteren Menschen ist teilweise nicht bewusst, dass sie Ergänzungsleistungen in Anspruch nehmen können oder haben Hemmungen, diese zu beantragen. Wer hat Anspruch darauf?
Voraussetzung ist eine AHV- oder IV-Rente und ein geringes Einkommen. Und dann muss man es rechnen lassen. Das kann man selber übers Internet oder durch den Sozialdienst der Gemeinde und auch die Pro Senectute. Eine provisorische Berechnung ist noch keine Anmeldung. Auch ein Eigenheim ist nicht à priori ein Hindernis, dass man keinen Anspruch hat. Ergänzungsleistungen zu beantragen kann sich wirklich lohnen, denn dadurch erhält man unter anderem auch Krankenkassen-Prämienverbilligung oder die Kosten für Haushalthilfe und Spitex werden übernommen.
Wohin muss ein Gesuch um Bewilligung von Ergänzungsleistungen gestellt werden?
An die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau; dies über die Wohngemeinde oder die Pro Senectute.
Meist sind es ältere Menschen, die ihren Lebenspartner oder ihre Lebenspartnerin pflegen. Auch jene Menschen, die ihre 90-jährige Mutter oder den Vater pflegen, sind oft bereits im Seniorenalter und stossen schnell mal an ihre Grenzen. Altersheime und noch viel mehr Pflegeheime, haben den Ruf, teuer zu sein. Dies schreckt immer mehr Leute davon ab, ihre pflegebedürftigen Angehörigen für eine solche Institution anzumelden. Auch weil die Frage auftaucht, ob allenfalls das Haus verkauft werden muss, um die Kosten zu finanzieren.
Alt oder betagt werden kostet, ob daheim oder im Altersheim. Altersheime haben zudem ein schlechtes Image, das «Abschieben». Dabei ist es häufig eine verpasste Chance. Denn im Altersheim können die sozialen Kontakte gepflegt werden und die Menschen sind wohlbehütet. Es gibt schon Situationen, wo ein Haus verkauft werden muss, um das Alters- oder Pflegeheim zu finanzieren. Aber es ist nicht der Alltag, sondern eher die Ausnahme. Eher können Erbvorbezüge oder Schenkungen Probleme machen. Dabei wird nicht hingeschaut, ob man quasi gut «in Treu und Glaube» gehandelt hat und deshalb das Haus zu günstig verkauft hat oder eben aus anderen Gründen. Denn es gibt auch die kalkulierende Gesellschaft. Kinder, die auch sehr bewusst versuchen, das Erbe zu retten. Dies ist leider nicht selten der Fall. Man macht den Eltern oder einem Elternteil Angst, dass das ganze Vermögen aufgebraucht wird, wenn man ins Alters- oder Pflegeheim gehe.
Was ist der Hauptteil Ihrer täglichen Arbeit?
Die Führung der 130 freiwilligen Mitarbeiter. Ich koordiniere die Einsätze, so dass sie für alle befriedigend sind. Ich unterstütze sie in ihren anspruchsvollen Arbeiten auch, indem ich die vielen administrativen Arbeiten erledige. Deshalb habe ich auch die Sozialberatung an Frau Sira Musso abgegeben.
Wie sieht es mit der Einsamkeit im Alter aus?
Das ist leider für viele ein Tabu-Thema; ein Makel in unserer Gesellschaft. Es gibt teilweise schon jüngere Senioren, die isoliert sind. Dies oft auch deswegen, weil schon Sozialkontakte kosten. Es gibt Menschen, die sich aufgrund von Lebensbrüchen oder Arbeitslosigkeit zurückziehen und bei Hochbetagten brechen die sozialen Kontakte wegen fehlender Mobilität weg. Dadurch, dass auch immer mehr Menschen aus ihrem Umfeld sterben, etwa Partner, Verwandte oder Schulkollegen, ist die Gefahr von Einsamkeit gross. Es sind viel mehr Menschen von Einsamkeit betroffen, als uns bewusst ist.
Wie möchten Sie persönlich alt werden?
In Dankbarkeit. In Kontakt mit Menschen. Möglichst lange mit sinnhafter Beschäftigung. Mit der Fähigkeit an Einschränkungen zu wachsen.
Ein Rucksack voller Wissen und Erfahrung
Eva Schütz ist seit 2001 Leiterin der Pro Senectute-Beratungsstelle Bezirk Laufenburg in Frick. Die 60-Jährige ist im Sternzeichen des Widders geboren. Sie ist im aargauischen Strengelbach aufgewachsen. Eva Schütz ist gelernte Arztgehilfin (heute medizinische Praxisassistentin MPA) und hat in verschiedenen Praxen (Kinderarzt, Frauenärztin und Allgemeine Medizin) in Luzern, im Aargau und im Kanton Zürich gearbeitet.
Geprägt von ihrer Arbeit in der Praxis des Allgemeinmediziners, hatte sie sich entschlossen, berufsbegleitend die Sozialarbeiterschule zu absolvieren und hat danach zehn Jahre am Kinderspital in Basel gearbeitet.
Während dieser Zeit erfolgte auch der Wohnortwechsel nach Frick und als die Stelle bei der Pro Senectute (Stellenleitung und Mitarbeiterin Sozialdienst) ausgeschrieben war, hat Eva Schütz ihr Interesse angemeldet. Sie hat ein Nachdiplom-Studium «Management im Sozialund Gesundheitsbereich» erfolgreich gemeistert.
Eva Schütz wollte mehr fundiertes Wissen im Sozial-, Gesundheits- und Altersbereich. «Diesen Rucksack kann man immer brauchen», sagt Schütz. Sie ist kinderlos und lebt heute in Gipf-Oberfrick in einer Partnerschaft. Ihre Freizeit (auf dem Papier hat sie ein 90-Prozent-Pensum, ihren Arbeitstag beginnt sie jedoch oft morgens um 6 Uhr und endet abends um 18 Uhr) verbringt sie oft draussen, beim Wandern, Velofahren, Joggen, Gartenarbeit (Blumen) und auch mal entspannter, beim Lesen. (bz)
130 freiwillige Helfer und ein grosses Kursangebot
Nebst den drei Festangestellten engagieren sich auch 130 Mitarbeitende und freiwillige Helfer bei der Pro Senectute Bezirk Laufenburg. So etwa als Kursleiter. «Ahnenforschung heute» und «Smartphone» sind gemäss Eva Schütz die Trendsetter.
Die Pro Senectute bietet auch einen Haushilfedienst (Putzen usw.) an, Begleitung bei Spaziergängen oder Hilfe in administrativen Belangen. «Ganz Freiwillige», also Personen, die sich unentgeltlich engagieren, sind die Ortsvertreterinnen (meist Frauen). Zu ihren Aufgaben gehört unter anderem das Überbringen des Geschenkes zum 75. Geburtstag. Dabei handelt es sich um eine Leselupe. Das Geschenk steht jedoch nicht im Vordergrund, sondern «dadurch haben wir mit fast allen Leuten mit 75 Jahren einmal Kontakt und ein offenes Ohr und können sie auf unsere Angebote aufmerksam machen», hält Eva Schütz fest.
Ebenso, sagt sie: «Alle Mitarbeiter, auch die Freiwilligen, die im Privatbereich zu tun haben, wählen wir sorgfältig aus und regeln mit einem Arbeitsvertrag ihre Rechte und Pflichten. Personen, die im administrativen Bereich tätig sind, also teils auch Zahlungen für die Klienten erledigen, müssen ein Leumundszeugnis beibringen. Das schafft Vertrauen.» Dies ist gerade für ältere Menschen wichtig und auch für jene, die aus irgendwelchen Gründen eher ängstlich oder verunsichert sind. (bz)