Gesundheitswesen in Bewegung
26.04.2025 FricktalGesundheit - und was wir darunter verstehen
Wie Zeit, Gesellschaft und subjektives Empfinden sich wandeln
Die einen tun sehr viel für sie, andere nehmen sich vor, mehr dafür zu tun. Die Rede ist von der Gesundheit. Doch was ist Gesundheit eigentlich? Eine feste Grösse, klar definierbar? Ein unfassbares Gebilde, wandelbar?
Simone Rufli
«Freude ist die Gesundheit der Seele», soll der griechische Universalgelehrte Aristoteles im 3. Jahrhundert vor Christus gesagt haben. «Kranksein gehört zur menschlichen Existenz», sagt Lebensqualitätsforscher Florian Riese von der Universität Zürich. «Vor zweihundert Jahren galt man trotz Bandwürmern im Bauch als gesund und heute wollen wir mit 75 Jahren einen Marathon rennen. Gesundheit ist ein Ideal, das in jeder Generation neu verhandelt wird.» Das sagt Rouven Porz, Leiter Medizinethik, Insel Gruppe Bern. Dass Gesundheit keine feste Grösse ist, zeigt auch folgende Aussage: «Vor hundert Jahren verstand kaum jemand, dass Menschen, die aus dem Krieg zurückkamen, nicht mehr funktionierten wie zuvor. Zwischen ihren eigenartigen körperlichen Symptomen – sie konnten nicht schlafen, schrien plötzlich oder zitterten unkontrolliert – wurde kein Zusammenhang zu dem hergestellt, was sie im Krieg an Furchtbarem erlebt hatten.» Zitate, entlehnt aus der Ausstellungs-Dokumentation des Stapferhauses Lenzburg, wo noch bis Ende Oktober die Gesundheit im Zentrum der Ausstellung «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen» steht.
Gesundheit als Ergebnis des richtigen Verhaltens
Im Altertum wurde Krankheit oft als Besessenheit von Dämonen und bösen Geistern interpretiert. Die ersten Zeugnisse verfeinerter Medizin stammen aus Ägypten, kann man in Wikipedia lesen. Bereits um das Jahr 2600 v. Chr. waren die Ägypter in der Lage, erste chirurgische Messer aus Kupfer herzustellen. Doch zurück in unsere Zeit. In der Präambel zur Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 22. Juli 1946 wird Gesundheit als ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens definiert. Rund vier Jahrzehnte später, in den 1980er-Jahren entstand im Sog der anrollenden Wellness- und Fitnesswelle ein Markt für Gesundheit und in der Bevölkerung verbreitete sich die Haltung, dass jeder für seine Gesundheit verantwortlich ist. Gesundheit – ein Ergebnis des richtigen Verhaltens.
Heute vertrauen wir auf die neueste Forschung und setzen auf Spitzenmedizin. Mit Erfolg: wir werden so alt wie nie zuvor. Es stellen sich aber auch Fragen. Wie gehen wir mit Krankheit um? Wie gesund ist genug gesund? Was darf Gesundheit kosten? Wer ist für Gesundheit verantwortlich und wer bezahlt den Preis?
Verkompliziert wird die ganze Sache dadurch, dass Gesundheit verschieden wahrgenommen wird. Was als Gesundheit betrachtet wird, ist zu einem bestimmten Anteil subjektiv und damit keine feste Grösse. Auch ist das, was wir heute unter Gesundheit verstehen, etwas anderes als das, was die Menschen vor 150 Jahren oder noch viel weiter zurück unter Gesundheit verstanden haben. Gesundheit in europäischen oder asiatischen Ländern umfasst bestimmt auch andere Vorstellungen und Erwartungen als Gesundheit in ärmeren Regionen der Welt. Vorstellungen von Gesundheit sind lokal unterschiedlich und immer auch von den Werten der jeweiligen Gesellschaft geprägt.
Erkenntnis aus dem 18. Jahrhundert: Gesundheit nützt auch dem Staat
Gewisse Meilensteine lassen sich dennoch bestimmen. So ist allgemein anerkannt, dass die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts für die heutigen Vorstellungen von Gesundheit beziehungsweise Krankheit entscheidend war. Nach und nach entstand in jener Zeit medizinische Literatur und Ausbildung. Wobei zuerst nur die Oberschicht in den Städten in den Genuss von ärztlicher Versorgung kam. Auf dem Land suchten die Menschen noch lange Rat beim Pfarrer. Vom Gedanken, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, war man da wie dort noch weit entfernt.
Was aber damals der Oberschicht schon auffiel: Gesunde Menschen sind leistungsfähiger als kranke und tragen somit mehr zum ökonomischen Reichtum des Staates bei. Es stellte sich zunehmend die Frage, wie der Staat die Gesundheit fördern kann.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgten auch hierzulande Choleraepidemien und zum ersten Mal wurde klar, das Krankheit wesentlich von der gesellschaftlichen Stellung abhing. Ärmere Menschen starben häufiger an der Cholera als gut situierte Menschen in besseren Quartieren. Mangelhafte Ernährung, schlechte Wohnbedingungen, verunreinigtes Trinkwasser wurden als Förderer von Krankheiten erkannt.
Nicht alles, was machbar ist, ist sinnvoll
Heute, so formuliert es Julia Horschel, Fachärztin für allgemeine Innere Medizin, sei eines der grossen Probleme, «dass wir zu viel über die Machbarkeiten und zu wenig darüber sprechen, was (medizinisch) eigentlich sinnvoll ist». Fast so, als ob der menschliche Körper eine Maschine wäre, die man einfach warten und reparieren könne. Psychologin Verena Kast macht eine weitere Beobachtung: «Uns fehlt heute oft das Vertrauen auf unsere Resilienz. Wir müssen wieder lernen, robuster zu sein.»
Eine differenzierte Sicht auf die Gesundheit hat Stefan Mayer, ein ehemaliger Spitalseelsorger und Vorstandsmitglied Palliative Aargau. Er sagt: Im Kontext der Palliative Care verlieren die Begriffe «Gesundheit» und «Krankheit» ihre trennscharfe existenzielle Bedeutung. Man spricht vom Wohlbefinden der Menschen und fragt sie selber, was sie brauchen, um in ihrer Situation ein gutes Leben zu führen.»
Ein Leben in Sicherheit, so formuliert es Maja Hess, Präsidentin Medico International Schweiz, «das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass es einem körperlich und seelisch gut gehen kann». Will man Gesundheit in einen Satz fassen, kann man es vielleicht damit versuchen: Gesundheit scheint das zu sein, was eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit darunter versteht.
Die Zitate stammen aus der Broschüre zur Ausstellung «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen», im Stapferhaus Lenzburg vom 10. Nov. 2024 bis 26. Okt. 2025.