«Eltern sollen ihre Kinder nicht unter Druck setzen»

  17.09.2023 Persönlich, Fricktal

Sarah Zanoni, Kinder- und Jugendcoach, im Gespräch

Sarah Zanoni ist Pädagogische Psychologin und Jugendcoach. Die Fricktalerin stellt bei ihrer täglichen Arbeit fest, dass viele Jugendliche wegen Notenstress unter Ängsten und Panikattacken leiden. Sie rät den Eltern, sich zu entspannen und weniger Druck auf die Kinder auszuüben.

Valentin Zumsteg

NFZ: Frau Zanoni, ein wachsender Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist von psychischen Problemen betroffen. Was läuft da falsch?
Sarah Zanoni:
Es handelt sich um einen Pool an Ursachen, der in den letzten drei Jahren zusammengekommen ist: Corona, Ukrainekrieg, Klimawandel. Das alles kommt bei Jugendlichen in der sowieso schwierigen Zeit auf dem Weg zum Erwachsenwerden hinzu. Bei den genannten drei Gründen werden Existenzängste ausgelöst: Überleben wir das alles? Und wenn ja: wie?

Es scheint paradox: Materiell geht es vielen Kindern und Jugendlichen gut, psychisch aber nicht. Ist die heutige Jugend verweichlicht?
Nein, ich würde das nicht so umschreiben. Aber wenn der Mensch nicht ums tägliche Überleben kämpfen muss, hat er umso mehr Zeit zum Nachdenken. Das ist vielleicht ein Preis, den unsere Jugend für den Wohlstand zahlen muss. Wir haben viele sensible und intelligente junge Menschen, die sich richtig viele Gedanken über unsere Welt machen. Sie sorgen sich um ihre Zukunft und fühlen sich deswegen belastet. Andere wiederum leiden unter dem Druck, den die sozialen Medien auslösen; dort wird ihnen oft vorgegaukelt, dass man mit wenig Aufwand viel erreichen, viel verdienen und super aussehen könne – zum Beispiel als Influencerin oder Influencer. Es sind diese Vorbilder, die eine weitere, heute relevante Ursache für psychische Probleme liefern: Ein Grossteil junger Mädchen und zunehmend auch Jungs setzen sich unter immensen Druck, genau so zu sein wie die Idole im Netz.

Pro Juventute verzeichnete 2022 fast drei Mal so viele Beratungen im Zusammenhang mit einer Suizidgefährdung wie im Vorjahr. Ist die Situation so dramatisch?
Offenbar ja. Die Zahlen steigen seit Corona sehr stark. Viele Therapieplätze sind ausgebucht.

Was können wir als Gesellschaft tun, damit sich die Kinder wieder wohler fühlen in ihrer Haut?
Sehr gute Frage. Vielleicht wieder achtsamer miteinander umgehen, weniger Egoismus vorleben, weniger Fake, mehr Tiefe statt Oberflächlichkeit.

Sie sehen auch Schulnoten kritisch. Wieso?
Ich setze mich dafür ein, dass Kinder die Note nicht mit ihrer Persönlichkeit verbinden. «Ich bin die Note, die ich habe», ist nicht akzeptabel für mich. Aber leider wird dies für viele Kinder zur Wirklichkeit. Da haben wir alle eine Verantwortung, dass dies nicht passiert: als Eltern, Lehrpersonen, Schulkameraden und als Gesellschaft. Ich habe zu viele Kinder im Coaching, die wegen Notenstress unter Ängsten und Panikattacken leiden. Schwächere Schülerinnen und Schüler bekommen immer wieder das Gefühl, dass sie nicht genügen. Das ist ein Unding. Ich erkläre ihnen jeweils, dass sie als Menschen ein Sechser sind. Und sehr gute Schülerinnen und Schüler leiden unter der Angst, ihr Level nicht halten zu können. Sie lehre ich, die Note nur als «Zahl auf dem Papier» zu sehen.

Sie sagten einmal, Schulnoten beeinträchtigen die Identitätsentwicklung unserer Kinder zu stark. Wie meinen Sie das?
Wer im Alter von 6 bis 15 Jahren (oder noch länger) nur an seinen Noten gemessen wird, erlebt eine Reduktion. Viele Ressourcen können so nicht gezeigt und wertgeschätzt werden. So kann zum Beispiel eine gute Tänzerin im Schulturnen trotzdem ungenügend sein – ist sie tatsächlich unsportlich? Ein Kind, das zwei bis drei Sprachen f liessend spricht (Türkisch, Italienisch, Deutsch) kann trotzdem in Französisch und Englisch schlecht sein – ist es tatsächlich sprachlich unbegabt?

Haben Sie in diesem Zusammenhang einen Tipp, den Sie den Eltern mit auf den Weg geben können?
Ganz wichtig: Eltern sollen ihre Kinder nicht unter Druck setzen. Aussagen wie «Bez wäre besser als Sek» oder «Sek ist besser als Real» sind nicht hilfreich. Die Kinder machen sich selbst schon genug Druck. Ich sage den Schülern, die zu mir kommen, oft: «Die Schule ist wichtig, sie ist aber nicht das ganze Leben. Gib dein Bestes, das du jetzt geben kannst, das genügt.» Das ist ein wichtiges Signal, das auch Lehrpersonen häufiger geben sollten. Unser Bildungssystem ist inzwischen sehr durchlässig. Deshalb dürften wir alle etwas entspannter sein.

Am Dienstag, 26. September, wird im «Marabu» in Gelterkinden ein Informationsabend zum Thema «Jugendliche unter Druck – Wie kann ich mein Kind unterstützen?» durchgeführt. Die Pädagogische Psychologin Sarah Zanoni wird dabei ein Referat halten und anschliessend Teil der Podiumsdiskussion sein. Türöffnung ist um 18.30 Uhr, Beginn um 19 Uhr.


Sarah Zanoni

Als Kinder- und Jugendcoach begleitet Sarah Zanoni seit 2004 Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Die Fricktalerin hat einen Master in Pädagogischer Psychologie, Sonderpädagogik und Sozialpädagogik (Uni Zürich). Als Heilpädagogin arbeitete sie elf Jahre an der Primarschule (Kindergarten bis 6. Klasse) und aktuell ist sie an der Oberstufe Möhlin tätig. Ihr Büro für Jugendcoaching ist im Roten Haus in Rheinfelden, Habich-Dietschy-Strasse 1. Sarah Zanoni (53) ist Mutter von zwei Töchtern im jungen Erwachsenenalter. Sie hat einige Ratgeberbücher rund ums Thema Kind und Jugend veröffentlicht. (nfz)


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