Einbruch an allen Fronten in Europa

  18.08.2024 Fricktal

Täglich lesen wir in den Zeitungen die Nachrichten von den Kriegsschauplätzen. «Wir hören, während wir… unser friedensmässiges Essen verzehren, die gleichen Meldungen aus dem Radio. Können wir das wirklich noch begreifen, was wir seit bald 1820 Tagen morgens, mittags und abends hören und lesen?» (Volksstimme aus dem Fricktal 9.9.1944).

Es sei aber keinem ein Vorwurf zu machen, wenn «unsere Augen und Ohren, vielleicht auch unsere Herzen…» abstumpfen.

Blitzkrieg
Der ‹Blitzkrieg› war ein Schlagwort, das zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939/40 die Titelseiten der Zeitungen beherrschte. Damals galt dies den raschen Eroberungen der Deutschen Wehrmacht im Westen und Osten. Jetzt, im Sommer 1944, kommt der Begriff wieder auf die Frontseite (z.B. Fth 19, 7.8.44). Nun allerdings sind es die Alliierten (Amerikaner und Briten), die am 6. Juni 1944 in der Normandie landeten und damit in einem ersten Schritt die Befreiung von Frankreich erreichten. Nach knapp 12 Wochen kapitulierte am 25. August 1944 das deutsche Stadtkommando von Paris, und die Stadt kam wieder in französische Hände. Die Ereignisse zeigen, «was heute in Frankreich vor sich geht, ist in der Tat eine Wiederholung des Blitzkrieges von 1940, dem jetzt die Deutschen selbst zum Opfer fallen». Weitere Beispiele für dieses rasche Vordringen finden sich im Frickthaler auch von den anderen Fronten im Süden (Italien, später Südfrankreich), Balkan und Osten. Als Beispiel sei die Schlagzeile vom 27.9.1944 erwähnt (Fth 114): Im «Blitztempo durchs Baltikum».

Am 14.8.1944 wird im Kommentar zu den bisherigen Ereignissen vermerkt: Die alliierten Truppen … dringen… in einem solchen Tempo vor, dass es sich nicht mehr lohnt, die Namen besetzter Orte zu nennen, da alles bereits veraltet ist, bevor es im Druck erscheinen kann.

Am 11.9.1944 doppelt der Berichterstatter nach: «Das Rad der Zeit dreht sich in rasendem Schwung. Der Berichterstatter hat Mühe, all die politischen und militärischen Aktionen, die sich überstürzen, nur bloss zu notieren, geschweige denn zu kommentieren».

Dem Leser, der Leserin dieses Beitrags wird empfohlen, die Kommentare in der jeweiligen Montagsausgabe des Frickthaler (Fth) zu lesen, die unter der Rubrik «Übers Wochenende» erschienen. In der Volksstimme aus dem Fricktal (Vdf ) sind es die Beiträge unter dem Titel «Umschau», die jeweils samstags das Geschehen der vergangenen Woche zusammentragen.

Zunahme der Brutalität
Der Krieg habe vor allem auf Seiten der Deutschen an Barbarei und Brutalität in den besetzten Gebieten zugenommen «der Krieg hat seinen Tiefpunkt erreicht. Tiefer geht’s nimmer!» Die ‹geflügelte Bombe› wird vom Deutschen Auswärtigen Amt als ‹Vergeltungswaffe› bezeichnet, «der Wille der deutschen Regierung … ist nur noch von einem unbändigen Gefühl der Rache…» beherrscht. Dann greift der Berichterstatter zu einem drastischen, erschreckenden Bild: «Wenn wir schon Schilderungen der Chicagoer Schlachthäuser zu lesen bekommen, da schüttelt es uns. Wie muss es uns aber erst ergreifen, wenn … jeden Tag 8000 Menschen … in diese Todeskammern hineingepfercht und schichtweise liquidiert werden» (Fth 82, 14.7.44); bezogen ist diese Aussage auf die Deportation ungarischer Juden.

Ein Blick in das Arsenal der Kriegspropaganda
Unter dem Titel «Churchill und die Höllenhunde» (Fth 79, 7.7.44,1) hat Churchill den «deutschen Propaganda-Ballon» (Bericht über grosse Schäden und Opfer in London) abgeschossen, indem er vor dem britischen Unterhaus erklärte, die 2754 Flügelbomben (V1, später V2), die bisher gegen London geschickt wurden, hätten 2752 Opfer gefordert. Und der Daily Telegraph schreibt «…dass es nicht der Mühe wert ist, eine Bombe zu konstruieren, die man wahl- los in den Raum schiesst. Deutschland hat nichts anderes erreicht, als dass am Tage der endgültigen Abrechnung eine entsprechende Quittung vorgelegt werden wird». (Fth 79, 7.7.44,2)

Ein Ende in Sicht?
Immer wieder tauchen jetzt Gedanken auf, wie dieser Krieg beendet werden könne, bzw. wie der Friede aussehen soll. Am 15.7.44 (vdf 81,6) stellte die Redaktion fest, dass die militärische Niederlage der Deutschen kaum noch aufzuhalten sei. Und jeder Versuch, dies zu verhindern, sei eigentlich sinnlose Kriegsverlängerung. Aber man stelle sich einmal vor, Hitler würde vor den Deutschen Volksgenossen (Parteitag) oder den Männern des Deutschen Reichstages (Parlament) erklären, «wir haben den Krieg verloren, wir hören auf, gehen nach Hause und warten, was über uns beschliessen». So wie die Person Hitler eingeschätzt wird, «könnte er das gar nicht wollen; denn das widerspräche allem, was er glaubt...» «Wie man auch die Kriegslage beurteile, auf eine sozusagen freiwillige Anerkennung einer Niederlage… darf man nie hoffen».

Aus englischen Berichten geht hervor, dass 21 deutsche Generäle, die an der Ostfront kapitulierten und in Gefangenschaft geraten waren, erklärt haben, «dass sie der Ansicht seien, das Führer-Hauptquartier verschliesse sich bewusst der Tatsache, dass der Krieg endgültig verloren sei. Der Führer sei nicht mehr von Vertretern der wahren Generalität umgeben…» sondern von (Partei-)Generälen ohne jegliche Fronterfahrung. «Die Berufsgeneräle des Dritten Reiches haben erkannt, dass Deutschland den Krieg verloren hat.» (Vdf 85, 25.7.44,1) Es seien gerade die Generäle aus erster Frontlinie, «die dem Kriege ein Ende machen wollen, näm- lich weil sie wissen, dass die sinnlose Ausbeutung des deutschen Volkes zu einem Verbrechen an der Nation wird» (Vdf 85, 25.7.44, 1). Mit dieser Haltung gingen gemäss den Alliierten Berichten auch grössere Heeresverbände an der bald nicht mehr existierenden Westfront gewollt in die Gefangenschaft. «Die Anzeichen mehren sich, dass die Nachkriegszeit noch nicht eine Friedenszeit sein wird… Immer wieder müssen alle Saumseligen und Allzusicheren vor der falschen Hoffnung gewarnt werden, dass der kommende Frieden einfach die Vergangenheit zur Fortsetzung bringe.» (vdf 90, 5.8.44,1)

Der britische Aussenminister Eden bemerkte, dass die erfahrenen (Fach-)Generäle die Flammenschrift des nahen militärischen Zusammenbruches sehen. Aber es sei naiv zu glauben, mit dem Sturz Hitlers werde der Weltfrieden hergestellt (Fth 87, 26.7.44,2). Der Geist der Eroberungssucht des ‹Herrenvolkes› sei noch gegenwärtig. «Diesmal müssen wir dafür sorgen, dass dieser Geist völlig zerschlagen … wird.» Allerdings wird sich bei der Frage der Verantwortung und Sühne auch der Wunsch einstellen, «das deutsche Volk nicht für die Taten und Absichten einer Führung büssen zu lassen, die es vielleicht doch mehr nur geduldet als wirklich gebilligt habe.» (Fth 97, 18.8.44,4).

Das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler wird in den Kommentaren mehrheitlich als Zeichen verstanden, dass es in der Führung des Deutschen Reiches gärt. Für die militärische Führung waren die Erfolge der Alliierten an der Westfront (Frankreich, Belgien) und an der Ostfront (Baltikum bis Polen) ein Grund, der politischen Führung (Hitler) klar zu machen, dass es nun eine andere Lösung als sinnloses Blutvergiessen benötige. «Auf jeden Fall steht fest, dass das Vertrauen der deutschen Generäle zu Hitler als Oberfeldherren … erschüttert ist und niemand mehr als die Alliierten – welch’ Ironie! – den heissen Wunsch hegen, dass Hitler das Oberkommando bis Kriegsende beibehalten möge» (Fth 93, 8.9.44,1).

Am 29.9.1944 gibt Churchill vor dem britischen Unterhaus einen Lagebericht zum Krieg in Europa. Er möchte aber jetzt noch keine Prognose zum Kriegsende stellen; es können noch einige Monate des Jahres 1945 nötig sein, um den Feldzug in Europa zu beenden. Der deutsche Staat und die deutsche Armee werden voraussichtlich vollständig zerschlagen. Aber es sei damit zu rechnen, dass ein erbitterter Partisanenkrieg in den Wäldern und Bergen Deutschland geführt werde (Fth 115, 29.9.44,2). Er schliesst seine Betrachtungen mit deutlichen Worten ab: «Freimütig möchte ich bekennen, dass wir neben den Leistungen unserer Armee eine grosse Dankesschuld für die ausserordentlichen Fehler abzutragen haben, die von den Deutschen selbst begangen worden sind…». Immer wieder werde Hitler mit Napoleon verglichen, aber ein solcher Vergleich sei eine Beleidigung für das Andenken an Napoleon. «Napoleons Name kann nicht in einem Atemzug genannt werden mit diesem unsauberen Metzger…»

Machtpolitik der Russen als Gefahr für den Frieden
Auch wenn das vordergründige Ziel der Alliierten sei, die Deutschen in ihre eigenen Grenzen zurück zu drängen und den Weltfrieden wieder herzustellen, so sei doch unverkennbar, dass die westlichen Verbündeten und die Russen im Osten eigene Ziele verfolgen. «Ein Friede, der Russland zur beherrschenden Macht in der Ostsee … im Balkan und damit auch im Mittelmeer machen würde, könne in britischen Augen gar nicht wünschenswert sein. «Das wäre ja der Sieg Peters des Grossen und Katharinas II auf einmal.» Die grosse Frage wird sein, «ob es Russland bis zum wirklichen Bruch mit den westlichen Koalitionspartnern kommen lassen will… und am Frieden mitzuarbeiten – und auf wie lange» (Vdf 97, 22.8. 44,1).


Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal», der «Neuen Rheinfelder Zeitung» und des «Frickthalers» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Als dieses Projekt vor 10 Jahren gestartet wurde, ging es um einen Rückblick auf schlimme, längst vergangene Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges und die Wahrnehmung in der lokalen Öffentlichkeit. Nie hätten es die Initianten des Projektes für möglich gehalten, dass wir heute in Europa wieder einen Krieg erleben müssen. Thomas Bitterli, Autor des hier publizierten Beitrags, ist Historiker und Archäologe und arbeitet in der historischen Siedlungsforschung. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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