Der tägliche Urlaub auf der Fahrt zur Arbeit

  21.09.2024 Persönlich, Wittnau

Der Benken fordere Respekt, sagt Lars Reimann und dass es ihm erst dann im Rhein gefalle, wenn die Temperaturen sinken. Zu Besuch in Wittnau bei einem, der vor 50 kein E-Bike wollte und damit doch schon um den Äquator gefahren ist.

Simone Rufli

Seit sechs Jahren legt Lars Reimann mit seinem E-Bike täglich 38 Kilometer zurück, 190 Kilometer jede Woche; von seinem Wohnort Wittnau übers Benkerjoch zu seiner Arbeitsstelle an der Schule Landenhof in Unterentfelden, wo er als Lehrer für Hörbeeinträchtigte arbeitet und wieder heim nach Wittnau. Letzte Woche hat er die Marke von 40 075 Kilometern erreicht. Rein rechnerisch ist der 54-Jährige damit einmal um den Äquator pedalt. «Ich brauche Bewegung», fügt er erklärend hinzu, als ihn die NFZ in seinem Haus in Wittnau besucht. «Wenn ich mich am Morgen schon bewege, starte ich fitter in den Tag.» Mit dem Velo zur Arbeit und zurück, «das ist mein täglicher kleiner Urlaub».

Längst kenne er die Bauersleute entlang der Strecke, grüsse er den Lehrer, den er jeweils kreuze, wenn dieser in die entgegengesetzte Richtung von Küttigen nach Oberhof zur Arbeit pedale. Bricht der Herbst an, so wie jetzt, erfreue ihn ganz besonders die stille Gegenwart von Gämsen und Rehen. Hie und da, so erzählt er, halte er an, «um speziell schöne Momente fotografisch festzuhalten». Raureif zum Beispiel, der entsteht, wenn Nebel aus dem Mittelland über die Hügel kriecht und das Gehölz Federn gleich mit feinen Eisnadeln umhüllt.

Mit allen Sinnen
Nicht abgekapselt im Innern eines Fahrzeugs, sondern der Witterung ausgesetzt, nehme er auf dem Velo die Geräusche und Gerüche um ihn herum mit allen Sinnen wahr. «Nur wenn es regnet, ist das An- und Ausziehen der Regenkleidung etwas mühsam.» Und im Winter, wenn es schneit? «Kein Problem, die Strassen sind sehr gut unterhalten und da ich immer in Bewegung bin, friere ich nie.» Einzig bei Eisesglätte verzichte er aufs Velo. Grössere Pannen? «Selten, aber schon vorgekommen. Da war ich dann froh, dass mich meine Frau mit dem Auto abholen kam.» Und der Verschleiss? Lars Reimann listet auf, was er seit 2016 ersetzen musste: zwei Akkus, acht Pneus, drei Riemen, eine Speiche, drei Sättel.

Mehr Rücksicht, mehr Radwege
Bei aller Liebe zum Velo, die Fahrt damit sei nicht ungefährlich. Selber auch als Autofahrer unterwegs, wisse er, dass es nicht einfach sei, aus dem Auto heraus, das Tempo von E-Bikern richtig einzuschätzen. Selbst von einem Bus sei er schon gefährlich abgedrängt worden – unabsichtlich, «der Chauffeur hat sich per Handzeichen bei mir entschuldigt». Auch sei er schon von genervten Automobilisten gefährlich überholt und ausgebremst worden. Einmal sei er bei überfrorener Nässe gestürzt und habe sich an der Schulter verletzt. Zudem ist er schon mehrfach an anderen Unfällen vorbeigefahren. «Das Benkerjoch fordert Respekt», sagt er. «Bergauf benutze ich deshalb lieber die alten Nebenstrassen, auf dem Heimweg meist den Weg durch den Wald beim Fischbach. Und wenn ich den Motor abschalte, kann ich in Aarau sogar mitten durch die Altstadt fahren.» Zwei Dinge wünscht er sich: «mehr gegenseitige Rücksichtnahme und einen Ausbau des Radwegnetzes».

E-Bike anstatt Rennrad
Schneller und flexibler zu sein als der öffentliche Verkehr, frei zu sein in der Wahl der Routen, E-Mobilität leben und mit den Velotaschen Gepäck mitführen zu können, seien für ihn gute Gründe, warum er sich ein solides E-Bike und kein an Strassen gebundenes Rennrad zugetan habe. «Dabei habe ich immer gesagt: kein E-Bike, bevor ich 50 bin.» Er schmunzelt.

Ein Wolkenband schiebt sich vor die Sonne. Der Wind frischt auf. Auf dem Gartensitzplatz in Wittnau wird es kühler – Herbst. «Heute morgen habe ich zum ersten Mal wieder eine Kappe aufgesetzt», sagt der 54-Jährige und kommt aufs Schwimmen zu sprechen. «Ich schwimme gerne, wenn es draussen kalt wird», sagt er. «Wenn für andere die Saison vorbei ist, beginnt für mich die schönste Zeit im Rhein.» Angefangen habe er damit während der Pandemie. «Als die Schwimmbäder geschlossen waren, blieb mir keine andere Wahl.» Um sich richtig zu verhalten und weil er als Lehrer mit Jugendlichen oft draussen unterwegs ist, hat Lars Reimann den Kurs «Retten im Kaltwasser» der SLRG absolviert. «Am Sonntag gehe ich dann gerne noch joggen.» Velofahren, schwimmen, rennen …? Er lacht. «Nein! Triathlon mache ich trotzdem nicht.»

Von Hamburg nach Wittnau
Lars Reimann ist anno 1970 in Hamburg zur Welt gekommen, hat später in Heidelberg Gehörlosenpädagogik studiert und sein Referendariat in Freiburg im Breisgau absolviert. Seine Frau Gesa Reimann, von Beruf Hebamme, hat das Gespräch von Anfang an mitverfolgt. Jetzt wirft sie schmunzelnd ein: «Er ist immer tiefer gerutscht.» Er dagegen meint: «Hier bin ich wieder im Norden und das fehlende Meer gleiche ich mit dem Rhein aus.» Indem er sich vorstelle, wie der Rhein in die Nordsee fliesst, sei er auch von Wittnau aus mit dem Meer und der ganzen Welt verbunden.

Seine Grossmutter wanderte einst von Rüti bei Zürich nach Deutschland aus. So sei er von Klein auf mit dem südlichen Nachbarland verbunden gewesen. «Malte ich als Kind einen Berg, war es der Säntis.»

Neben Bergen und Hügeln hätten ihn auch die freien Stellen für Heilpädagogen ins Land und in die Region geführt. Die erste Anstellung bekam er in Rheinfelden an der HPS. Als sich die Möglichkeit ergab, in sein angestammtes Fachgebiet Gehörlosenpädagogik zu wechseln, nahm er die Gelegenheit wahr. Seit 2016 arbeitet er im Landenhof in Unterentfelden, dem «Zentrum für Hören und Sehen». Einst ein grosses Internat, sei der Anteil jener Kinder und Jugendlichen, die noch in der Schule wohnten, heute klein und es gibt auch mehr Tagesschüler aus dem Fricktal. Reimann unterrichtet «herausfordernde Fälle» auf der Realstufe, mit jeweils fünf bis neun Kindern. Neben Gehörbeeinträchtigten würden auch immer mehr Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen hinzukommen und seit August auch solche mit Sehbehinderungen. Routine kenne er kaum. «Ich darf immer wieder neue und je nach Beeinträchtigung andersgeartete Beziehungen auf bauen und Unterrichtsmethoden anwenden.»

Fürs Foto holt Lars Reimann sein E-Bike in den Garten. Unten vor dem Haus steht ein Motorrad. Er zuckt mit den Schultern: «Ich habe es probiert, aber ich konnte meine Tochter nicht fürs Velofahren begeistern.»


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