Bange Tage im Pruntruter Zipfel

  15.11.2024 Fricktal

Projekt «kriegsnachrichten.ch»: der zweite Weltkrieg Oktober bis Dezember 1944

Fast ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem die Alliierten, am D-Day, in der Normandie gelandet waren. Die Truppen stiessen Richtung Norden vor und erreichten Ende Jahr die Ardennen und Deutschland, wo die Wehrmacht heftigen Widerstand leistete. Paris wurde bereits am 25. August 1944 befreit. Keine dieser Soldaten aus der Invasion der Normandie kam in die Nähe der Schweiz. D-Day, der heutige Begriff zur Landung in der Normandie, bedeutet korrekterweise nicht die Landung in der Normandie, sondern den Tag X, den Starttag zur ‹Operation Overlord›. Jede Operation startet mit einem ersten Tag, einem D-Day. Sinngemäss fand am 15. August 1944 ein weiterer D-Day statt. Der Start zur ‹Operation Dragoon› in Südfrankreich. Der «Fricktaler» berichtete am 16. August: «Der Sprung nach Südfrankreich – Zehn Wochen nach der erfolgreichen Landung der britischen und amerikanischen Streitkräfte an den Küsten der Normandie haben die Alliierten den Sprung auf den Boden Südfrankreichs gewagt. Nach den ersten Meldungen zu schliessen, handelt es sich auch diesmal um eine mit gewaltigen Mitteln ins Werk gesetzte Offensivaktion…» Und im Gegensatz zur ‹Operation Overlord› in der Normandie erreichten die Soldaten aus Südfrankreich relativ schnell die Schweizer Grenze. Doch bevor die alliierten Soldaten ankamen, befreiten Partisanen der FFI (Forces françaises de l’intérieur) die Hochsavoyen, also die unmittelbare Nachbarschaft zu Genf. So schreibt die «Volksstimme aus dem Fricktal», bereits vier Tage später am 18. August: «Ganz Hochsavoyen wird jetzt praktisch von den Partisanen beherrscht, mit der einzigen Ausnahme von Annemasse.» im selben Artikel etwas später: «Die Einwohner, die eine Rückkehr der Deutschen Truppen befürchten, suchen in der Schweiz eine Zuflucht zu finden und drängen in aller Eile gegen die Grenze.»

Im letzten Quartal des Jahres 1944 lagen die schweren Kämpfe bereits in der Burgundischen Pforte. Ein Gebiet direkt an der Grenze beim Pruntruter Zipfel. Bereits am 23. September schreibt die «Volksstimme aus dem Fricktal»: «An der Südfront steht die Armee General Patch etwa 24 bis 32 Kilometer von der Burgundischen Pforte entfernt. Ihre Stellungen befinden sich auf einer halbkreisförmigen Linie, die sich von der Nähe der Schweizergrenze bis gegen Lure, nordwestlich von Belfort, erstreckt.»

Der «Fricktaler» berichtet gut zwei Wochen später: «Aufregende Tage im Pruntruter Zipfel – Die Bevölkerung im Pruntruter Zipfels des Kanton Bern hat aufregende Tage hinter sich und wird solche voraussichtlich in der nächsten Zeit noch weitere durchmachen müssen. Erschütternd war der Durchzug der Tausenden von französischen Kindern …». Die Kriegsberichterstattung rund um die Ereignisse im Oberelsass dominieren die Berichte aus den anderen Kriegsgebieten. Aber auch die Ereignisse in den Ardennen, der Ostfront und sogar aus Fernost fehlen nicht. Titel wie «Die Russen vor Belgorat», «Landung in Griechenland und Albanien», «Die Schlacht um die Philippinen» und viele mehr sind zu finden.

Die Atombombe
Ein Artikel in beiden Zeitungen am 5. beziehungsweise am 6. Oktober veröffentlicht, beinhaltet wohl zum ersten Mal einen Artikel in unserer Region, die den Beginn ins neue Atom-Zeitalter einläuten. Bis zum heutigen Tag ein Dauerbrenner für Angst, Drohung und Weltuntergangsstimmung: Die «Volksstimme aus dem Fricktal» am 5. Oktober 1944: «Eine neue deutsche Waffe: die Atombombe. Der Stockholmer Korrespondent der ‹Daily Mail› beschreibt: Die Atombombe stellt die neue deutsche Waffe dar, welche die Deutschen Wissenschaftler im Begriffe stehen, auszuarbeiten. [...] Das Prinzip dieser Atombombe beruht auf der Atomzertrümmerung. Die Atombombe hat weitreichende Wirkungen [...] Dem Vernehmen nach sind in den Versuchen mit der Atombombe zahlreiche Unfälle vorgekommen, bei denen hunderte deutscher Arbeiter das Leben eingebüsst haben sollen.»

Der «Fricktaler» einen Tag später in einem zweispaltigen Artikel: «B3 die Atombombe? [...] Es handelt sich um einen Sprengkörper von ungeheurer Zerstörungskraft. [...] Die Deutschen hätten einen riesigen Respekt vor der wissenschaftlichen Atom-Schule in Cambridge und fürchten, dass auch England an einem ähnlichen Projekt arbeitet. [...]» etwas weiter wird der Informant Herwin nochmals zitiert: «Zwar haben die Deutschen das Prinzip gefunden, aber es noch nicht praktisch auszuwerten verstanden, Dafür sind möglicherweise noch Jahre nötig. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die Atombombe in diesem Krieg noch eine Rolle spielen wird.» Zehn Monate später lagen Hiroschima und Nagasaki in ‹atomaren› Trümmern.

Als die Alliierten die Schweizer Grenze erreichten
In diesen Wochen, vor genau 80 Jahren, erreichten die Kämpfe die Grenzregion unmittelbar bei Basel. Die Burgundische Pforte war durchbrochen und die französischen Truppen erreichten Hegenheim: Die «Volksstimme aus dem Fricktal», am 21. Nov. 1944 berichtet: «Allschwil 20. Nov. An den Grenzposten Neuweiler und Hegenheim stehen seit heute Morgen 6 Uhr wieder Franzosen. An den Grenzdörfern erschallte Glockengeläute. Die Bevölkerung von Neuweiler steht in Scharen im Sonntagsgewand an der Schweizer Grenze.»

Diese Schaulustigkeit der Schweizer führte zu einer Massnahme der Schweizer Armee, welche die «Volksstimme aus dem Fricktal» publiziert: «Warnung an die Bevölkerung. Nach- dem schon seit längerer Zeit durch das betreffende Territorialkommando längs der Grenze verschiedene Sperrgebiete bezeichnet worden waren, sind nun auch die Zugänge zu den elsässischen Übergangsstellen, sowie weitere militärische Objekte gesperrt worden […]. Die beiden letzten Tage haben gezeigt, dass die militärischen Ereignisse im nahen Elsass unzählige Neugierige angelockt haben, die selbst mit Kindern erscheinen, um die militärischen Operationen jenseits der Grenze zu verfolgen.»

Die zu beobachtenden Kämpfe rund um Saint-Louis und Huningue waren heftig und langwierig. Am 1. Dezember berichtet der «Fricktaler»: «Kampf um Hüningen – Elf Tage, nachdem die Panzerspitze der ersten französischen Armee […] in St.Louis ihren Einzug hielt, […] hat die französische Artillerie ihren Angriff gegen den deutschen Brückenkopf eingeleitet. […] Um 11.15 … begann der Krieg jenseits der Grenzpfähle […] In den Kellern ihrer Wohnstätten hatte sich die Bevölkerung Hüningens verborgen, die nach langen Verhandlungen endlich am Donnerstagnachmittag um 3 Uhr evakuiert worden wäre. (also zwei Tage nach dem Erscheinen dieses Artikels, am 3. Dez., die Evakuation hat also nicht stattgefunden.) Sie verbringen entsetzliche Stunden des Wartens.»

In diesem Kriegsquartal tobten um Aachen und südlich davon beim Hürtgenwald die verlustreichsten Kämpfe der US-Armee. Diese gelten in Amerika als längste Schlacht der US-Armee überhaupt (Oktober 44 – Februar 45). Ebenso fand die letzte Gegenoffensive der Deutschen in den Ardennen statt, von welcher der «Fricktaler» am 20. Dezember unter dem Titel: «Erfolgreiche deutsche Gegenoffensive», berichtet. Viele Artikel zu diesen Kriegshandlungen finden sich in den lokalen Zeitungen. Ab den 14. Dezember wird es wieder etwas ruhiger um Basel. Der «Fricktaler» berichtet: «Säuberung der Dreiländerecke – Die heftige französische Kanonade der letzten Tage hat anscheinend bewirkt, dass die Deutschen Truppen, die sich noch rheinabwärts von Hüningen bis Kemps in vereinzelten Widerstandsnestern gehalten haben, auf das rechtsrheinische Ufer abgesetzt haben.» Nun beginnen auf deutscher Seite die Verteidigungsarbeiten zwischen Basel und Waldshut. So berichtet der «Fricktaler» kurz vor Weihnachten: «Schanzarbeiten am Oberrhein – Im alten Grenzlandkreis Waldshut wird jetzt die Bevölkerung zu Schanzarbeiten angewiesen. Das ganze Gebiet zwischen dem Rheinufer und den Ausläufern der Schwarzwaldhöhen wird mit Panzergräben, Panzerfallen, Laufgräben und Maschinengewehrstellungen überzogen.» Und nach Weihnachten, am 27. Dezember, berichtet die «Volksstimme aus dem Fricktal»: «Oberbaden soll geräumt werden. Im oberbadischen Grenzgebiet ist zwischen Bruchsal und Lörrach die Zwangsräumung der Zivilbevölkerung eingeleitet worden. [...] Die Evakuierten kommen ins Bodenseegebiet und nach Bayern.» Im letzten Quartal 1944 waren die Kampfhandlungen am nächsten zur Schweiz. Im Pruntruter Zipfel bei Beurnevésin, wo die alten Grenzen CH – D – F zusammenkamen, sogar unmittelbar an der Grenze. Zwar gab es an der Tessiner Grenze ebenfalls Kriegshandlungen, aber sie erreichten nicht diese Dimension. Hervorzuheben ist daraus sicher die Gründung des Partisanen-Freistaates «Ossola» (Sept. – Okt. 1944). In den beiden Lokalzeitungen habe ich jedoch keinen Bericht darüber gefunden.

Andreas Rohner


Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal», der «Neuen Rheinfelder Zeitung» und des «Frickthalers» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Andreas Rohner, der Autor des hier publizierten Beitrags, ist Leiter des Projektes «Kriegsnachrichten». Als dieses Projekt vor 10 Jahren gestartet wurde ging es um einen Rückblick auf schlimme, längst vergangene Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges und die Wahrnehmung in der lokalen Öffentlichkeit. Nie hätten es die Initianten des Projektes für möglich gehalten, dass wir heute in Europa wieder Krieg erleben müssen. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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