Vor 80 Jahren: Der Beginn des Zweiten Weltkriegs
09.09.2019 FricktalLeser und Leserinnen der Volksstimme schlossen am 31. August 1939 mit Henri Guisan Bekanntschaft: «In Henri Guisan besitzen wir einen General, zu dem das Schweizervolk mit vollem herzlichem Vertrauen aufblicken kann und der sich würdig an die historische Vorgängerreihe der bundesstaatlichen Eidgenossenschaft – Dufour, Herzog, Wille – anfügt. Nicht nur in der Armee und bei den Landesbehörden, sondern auch im breiten Volke gilt er seit langem als der kommende Mann, und er bringt auf seinen hohen Posten ein Mass von Popularität mit, das sich der eine oder andere seiner Vorgänger erst im Amte erobern musste.»
Der Zeitung lag das kleine Plakat zur Kriegsmobilmachung der Armee bei, samt dem Hinweis: «Fahrpläne der Militärzüge an der Plakatwand bei der Milchzentrale.» Tags darauf schlug Hitler gegen Polen los.
Die zum Widerstand bereite Haltung der Schweiz fand am 2. September 1939 in einem Artikel einen spezifischen Rheinfelder Ausdruck:
«So wenig als die Kuh lernt spinnen, Wird der Schwed Rheinfelden g’winnen!»
Um auch schläfrigen Lesern zu zeigen, wie dieser Rückgriff auf die Stadtgeschichte gemeint war, setzte das Blatt ein «Auch heute noch dieser Meinung» dazu. Die Neue Rheinfelder Zeitung (NRZ) setzte am 2. September den Hitler-Stalin-Pakt, welcher beiden Diktatoren ja überhaupt erst die Auslösung des Weltkrieges ermöglicht hatte, in Kontrast zu einem Lied der Hitlerjugend:
«Du kleiner Tambour schlage ein! Nach Moskau wollen wir marschieren!
Nach Moskau wollen wir hinein! Der Bolschewik soll unsre Kräfte spüren!
Am Wege wilde Rosen blüh’n, ja blüh’n! Wenn Hitlerleut nach Russland ziehn!»
Ideologische Texte eines totalitären Regimes können dessen langfristige Pläne gut beleuchten. Im September 1939 war allerdings das Tagesthema die vierte Teilung Polens zwischen Hitler und Stalin. Für Polen traten Grossbritannien und Frankreich in den Krieg ein. Allein, die deutschen Truppen kamen voran und am 17. September rückten von Osten her die sowjetischen Verbündeten der Deutschen an. Polen konnte allerdings mit dem militärischen Zusammenbruch nicht von der Weltkarte getilgt werden. Die Volksstimme zitierte am 21. September den Osservatore Romano: «Es heisst, dass Völker, die sich nicht verteidigen, es nicht verdienen, weiter zu bestehen. Noch richtiger aber ist, dass Völker, die sich verteidigen, das Recht haben, zu leben.» Leuchtete hier die Fackel von Hoffnung und Leben, so herrschte draussen der Tod. Der prowestliche rumänische Ministerpräsident Armand Ca˘ linescu war den Nazis und ihren rumänischen Gefolgsleuten, der Eisernen Garde, im Weg und wurde am 21. September 1939 ermordet. Eine vorsätzliche Kollision brachte den Wagen Ca˘ linescus zum Stehen. Volksstimme:
«Die beiden anderen Autos kamen von links und rechts. Es entstiegen ihnen mit Revolvern bewaffnete junge Männer … Der den Ministerpräsidenten begleitende Polizeibeamte wurde niedergeschossen, der Chauffeur verletzt, der Ministerpräsident selbst von elf Kugeln getroffen.»
Zur selben Zeit erpresste und verführte die Sowjetunion die baltischen Staaten (Litauen erhielt das bisher polnische Vilnius), die sich nicht zur Wehr setzten. Klare Worte fand am 30. September 1939 die NRZ:
«Der Appetit kommt mit dem Essen. So ergeht’s auch den Russen. Nachdem sie beinahe kampflos den Grossteil Polens zu Eigentum erhalten, schielen sie nach Nordwesten zu den baltischen Staaten: Litauen, Lettland und Estland in Gefahr. … Auch Finnland ist wirklich in Gefahr.»
Der aus seinem eroberten Vaterland nach Rumänien geflohene polnische Staatspräsident Ignacy Mos’ cicki und seine Frau durften in die Schweiz kommen. Der Bundesrat habe soeben die Genehmigung erteilt, schrieb die Volksstimme am 5. Oktober 1939. Wer in Polen blieb, sah einem ungewissen Schicksal entgegen: «Was aus den zweieinhalb Millionen Juden werden soll, die in dem von den deutschen Truppen besetzten Teil Polens leben, ist noch nicht bekannt...» Die Schweiz bereitete sich gleichzeitig vor, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Im gleichen Blatt stand zu lesen, die Ausfuhr von Landkarten aus der Schweiz sei nunmehr verboten und zwei Lustenauer Nazis aus Vorarlberg, welche sich auf der Schweizer Seite in Widnau etwas gar zu unverfroren «umsahen», wanderten für je 6 Wochen ins Gefängnis. Die Realität der Tyrannei – dass nur der Tod des Tyrannen eine rasche politische Änderung herbeiführen kann – rief Georg Elsers erfolgloser Anschlag auf Adolf Hitler am 8. November 1939 in Erinnerung. Die Meldung in der Volksstimme trug den Titel «Schweres Attentat im Bürgerbräuhaus in München». Die Rheinfelder Presse zeigte Charakter. Als die Sowjets am 30. November 1939 Finnland überfielen, kommentierte die nächste Ausgabe der Volksstimme (2. Dezember): «Dieser feige Überfall eines 180 Millionenvolkes auf einen Kleinstaat ist ein Schulbeispiel dafür, wie verworren die heutigen Rechtsbegriffe sind.»
Dass der Krieg auch 1939 bereits Weltkrieg war, zeigte sich am deutschen Panzerschiff Admiral Graf Spee. Da Kapitän Hans Langsdorff vom Kriegsausbruch im Südatlantik überrascht wurde, versenkte er einige britische Handelsschiffe. Die britischen und neuseeländischen Kreuzer HMS Exeter, Ajax und Achilles stellten die Admiral Graf Spee an der Mündung des Rio de la Plata. Die beschädigte Admiral Graf Spee lief den Hafen von Montevideo an. Das neutrale Uruguay wollte sie dort nicht auf Dauer dulden, sodass Langsdorff auslief, sein beschädigtes Schiff selbst versenkte und mit der Besatzung in Argentinien Zuflucht suchte. In der Volksstimme des 16. Dezember war die Admiral Graf Spee noch im Hafen von Montevideo, welchen sie mit 36 Toten an Bord erreicht habe. Am 19. Dezember 1939 schloss das Blatt die Geschichte mit zahlreichen Details ab. Mental war die Schweiz 1939 besser auf den Aktivdienst vorbereitet als 1914. Die NRZ widmete die Titelseite des 23. Dezembers dem bevorstehenden Weihnachtsfest und einem Aufruf von Monsignore Marius Besson, dem Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, den katholischen Blättern treu zu bleiben. Für die Soldaten von ähnlich hoher Bedeutung wird die Nachricht gewesen sein, der Bundesrat habe die Lohnausfallentschädigung für aktivdiensttuende Wehrmänner geregelt. Beide Rheinfelder Zeitungen erschienen mit vier, an guten Tagen acht Seiten, etwa wenn die Inserenten ihren Kunden auf diesem Weg Neujahrswünsche zukommen liessen. Der Ton gegen Ende des Jahres 1939 war im Grunde zuversichtlich, denn, um der letzten Ausgabe der Volksstimme (30. Dezember) das Wort zu geben:
«Die Einigkeit unseres Volkes im Augenblicke der Gefahr hat sich glänzend bewährt…»
Was noch kommen sollte, wusste niemand. Wer genau las, stellte fest, dass Henri Guisan einen Generalstabschef, mit dem er sich nicht verstand, durch den verlässlichen Aargauer Jakob Huber ersetzt hatte. Wer weiss, wie viel von der heftigen Kontroverse über Operationspläne und von der Neuaufstellung des 4. Armeekorps durchgesickert war, und was darüber gesprochen wurde. Zum Beispiel am Rand des in derselben Ausgabe angekündigten Silvesterständchens, um 19.00 Uhr auf dem Rathausplatz. Die Stadtmusik geleitete ihr Publikum hinüber in ein selten unsicheres kommendes Jahr 1940.
Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit
Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet.
Jürg Stüssi-Lauterburg, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Militärhistoriker. Er wohnt in Windisch. (nfz)