Nach dem Freitod einer jungen Mutter
15.12.2020 FricktalZäher Streit um die Betreuung und das Wohlergehen ihrer fünf Kinder
«Eine Mutter beschliesst zu sterben» – so hiess der Titel der Reportage über ein tragisches Familiendrama im Fricktal. Erschienen ist die von Peter Hossli geschriebene Geschichte zuerst in der NZZ am Sonntag, dann am 11. September auch in der Neuen Fricktaler Zeitung. Was ist aus den Kindern der unglücklichen Mutter geworden? Hat sich die zerstrittene Familie wiedergefunden? fragten sich viele. – Die NFZ hat recherchiert.
Edi Strub
Fünf Herzchen und fünf weisse Engelchen hat Agnes Amsler auf das Grab ihrer Tochter Andrea gelegt. Für jedes Enkelkind, das ihre Tochter zur Welt gebracht hat, je eines. Als Zeichen der Liebe für ihre Tochter und für eine junge Mutter, die sich in Verzweiflung über eine verunglückte Ehe das Leben nahm. Gepflegt wird das Grab von Mutter Agnes Amsler, niemand sonst kümmere sich darum, sagt sie. Sie gehe jede Woche ein oder zweimal auf den Friedhof, wo auch ihr bei einem Arbeitsunfall umgekommener Sohn ruht. Als wir gemeinsam mit ihrem Mann die beiden Gräber besuchen, hat jedoch jemand bei Andrea ein paar Rosen hingestellt. Agnes Amsler weiss nicht, von wem die Blumen sind. Einmal lag auch ein Bild der Kinder auf dem Grab. Eine Botschaft? Ein Gruss? – Agnes Amsler weiss es nicht. Sie ist überzeugt, dass der Mann von Andrea, bei dem die Kinder nun leben, das Grab nie besucht hat. Die fünf Kinder kommen auch nicht mehr zu Besuch auf den Bauernhof ihrer Grosseltern wie sie das früher häufig taten. Der von der KESB (Kinderschutzbehörde) mit der Erziehung der Kinder beauftragte Vater verhindere jeden Kontakt, sagt Agnes Amsler. «Er erlaubt uns nicht einmal, unseren Enkelkindern an Weihnachten oder an Geburtstagen eine kleine Botschaft oder ein Geschenkchen zu schicken.»
Die Grosseltern machen sich Sorgen um die fünf Kinder, die mit ihrem Vater nun in der Nähe von Basel wohnen. Der Vater habe die Kinder oft geschlagen, sagen die Grosseltern. Auch Andrea sei geplagt und misshandelt worden. Nach einer Gefährdungsmeldung an die Kinderschutzbehörde KESB schrieb diese kürzlich, die Gefahr bestehe nicht mehr, die zuvor verordnete Erziehungsbeistandschaft sei aufgehoben worden. Unbestritten ist, dass der Vater früher gegenüber den Kindern und seiner damaligen Frau schwer gewalttätig war. Schon vor dem Suizid von Andrea wohnte der Vater zeitweise alleine zusammen mit den Kindern.
Die Grosseltern Agnes und Walter Amsler möchten ihre Enkelkinder wieder regelmässig sehen, weil sie sie lieben und früher wunderbare Tage mit ihnen verbracht haben. Aber auch, weil sie sich ohne Kontakt unsicher fühlen, dass für die fünf gut gesorgt wird. Sie vertrauen weder dem Vater, den sie als unstet und gewaltbereit erlebt haben, noch der KESB und den übrigen Behörden. Allzu leichtfertig habe man immer wieder versichert, dass alles in Ordnung sei. In einer Eingabe an das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt haben sie daher im Januar 2019 gefordert, dass die KESB eine Besuchsregelung erlasse, die es ihnen erlaube, die Kinder regelmässig zu sehen. Vor ein paar Wochen ist dieses Begehren aber abgewiesen worden. «Im Interesse der Kinder», weil diese bei einer Befragung durch die KESB gesagt hätten, dass sie das zurzeit nicht möchten. Die Kinder hätten zwar schöne Erinnerungen an die Tage auf dem Hof ihrer Grosseltern, aber ihr Vater und die Grosseltern hätten sich immer wieder fürchterlich gestritten. Die Grosseltern seien «fies» zu ihrem Vater gewesen, erzählten sie in der Befragung durch eine Fachperson.
Agnes und Walter Amsler glauben nicht, dass diese Aussagen, dem wahren Willen und Empfinden der Kinder entsprechen. Sie vermuten, dass sie von ihrem Vater manipuliert werden und Angst haben, etwas zu sagen, was ihrem Vater missfällt. Das Gericht stellte zwar anerkennend fest, dass die Kinder gute Erinnerungen an ihre Aufenthalte auf dem Hof der Grosseltern in Wölflinswil haben. Sie hätten nun aber die andere Seite gewählt, um den schlimmen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Grosseltern zu entgehen. Am schlimmsten sei es an einer Weihnachtsfeier in einer Freikirche gewesen und an der Beerdigung ihrer Mutter. Grossvater Walter Amsler ist sich keiner Schuld für diesen Konflikt bewusst.
Eine Gotte und ein Götti eines der Kinder, schrieben der Neuen Fricktaler Zeitung, der Selbstmord von Andrea und die jetzigen Streitereien zwischen Grosseltern und dem Vater der Kinder seien eine Geschichte voller Ohnmacht und Verzweiflung. «Es ist eine Geschichte, in der es nur Verlierer gibt – die Kinder, die Eltern, die Grosseltern, die Göttis, Gotten und Verwandten.» Die beiden Seiten, die sich heute streiten, würden nur ihre Sicht anerkennen. Sie als Götti und Gotte seien nicht bereit, sich auf eine Seite zu schlagen, heisst es im Brief. Den Kindern gehe es heute gut. Es seien lebhafte und fröhliche Kinder, sie seien gesellschaftlich eingebunden und gut aufgehoben. Sie als Pate und Patin eines der Kinder wünschten sich, dass beiden Seiten eines Tages einander wieder näherkommen und sich mit Respekt und Achtung begegnen.
Die Grosseltern Amsler sind solchen Gedanken nicht abgeneigt. Auch sie suchen einen Ausweg. Die Mediation zwischen ihnen und dem Vater der Kinder ist allerdings nicht zustande gekommen. Der Vater weigerte sich, daran teilzunehmen und sagte bereits die erste Sitzung kurzfristig ab. Die NFZ hat versucht, mit dem Vater durch einen Brief in Kontakt zu kommen. Vergeblich, er ist nicht beantwortet worden. Der Konflikt mottet weiter. Niemandem ist es bislang gelungen, eine Brücke zwischen Grosseltern und Kindsvater zu schlagen.