Ein «déjà-vu» aus dem Mittelalter

  16.04.2020 Fricktal

Ja, die Zeiten in denen die Pest in Europa wütete, sind lange her – aber wenn man die Lebensumstände von damals und heute zusammen in eine Schale wirft, findet man erstaunliche Parallelen.

Robi Conrad

Was immer schon gleich war: bei invasiven Bedrohungen wurden schnell Schuldige gesucht und auch ausgemacht – heute sind es die Chinesen, die dieses Unheil über die ganze Welt verteilten – damals waren es die Juden – das Paradoxe dabei: es war die Pest, die tatsächlich von Asien über die Routen der Seidenstrasse mit Schiffen zu uns nach Europa kam. Und wieder eine Parallele – die meisten Pestzüge in Europa gingen von Venedig aus – sprich aus Norditalien, das vom Coronavirus extrem stark betroffen ist.

Die Venezianer schlossen zwar die Beizen und Märkte nicht – aber sie schlossen die ankommenden Schiffsbesatzungen vierzig Tage lang auf einer Insel mit leerstehendem Lazarett ein – weshalb die Venezianer dieser Insel den Namen «Isola del nuovo Lazzaretto» gaben – und nur, wenn dort in diesen vierzig Tage niemand krank wurde, durften die Schiffsbesatzungen die Stadt betreten – vierzig Tage = quaranta giorni – die Geburt der Quarantäne – eines der aktuell meistgelesenen Corona-Worte in den Medien.

Die Pestzeiten – die haben uns über vier Jahrhunderte hinweg immer wieder heimgesucht. Europa war derart entvölkert, dass sich die grossen Wälder, durch die intensive Nutzung als Bau- und Brennholz am Aussterben, wieder erholen konnten.

Heute erholen sich Luft- und Wasserqualität in erstaunlich schnellem Tempo… dank der durch Corona eingeschränkten Mobilität.

Ein weiteres Beispiel: das Papier zur Bekämpfung der Seuchen – anscheinend spielte das Papier bei der Bekämpfung dieser Katastrophen schon immer eine Rolle – heute bekämpfen wir das Virus mit Toilettenpapier – es muss tatsächlich wirken, sonst würden wohl kaum so viele dieser Papierrollen gekauft – und ein Generikum hat man auch schon gefunden, das Küchenpapier. Gezielte Medikamente und Generika kannte man in Mittelalter und Neuzeit noch nicht – deshalb hat man die Pest mit einfachen Papierbildern bekämpft – diese kaufte man nicht im Supermarkt sondern in der Kirche – naja, die Pest war in den Augen der Bevölkerung damals eine Strafe Gottes. Die Kirche liess also kleine Heiligenbilder auf Papier malen, diese hat man den Gläubigen als Schutz gegen die Seuche verkauft – in Süddeutschland nannte man diese Papiere «Schluckbildchen»; ja diese wurden tatsächlich zusammengeknüllt und heruntergeschluckt, dies damit der Heilige den Körper von innen her schützen konnte – eigentlich müsste man in heutiger Sprache diese Papiere als «Schluckzettel» bezeichnen, es wurde aber der «Fresszettel» daraus.

Aber auch Flüssigkeiten hat man einst und jetzt in diesen schlimmen Zeiten eingesetzt: Zur Eindämmung des Virus benutzte man das Sterillium – um die gestanklichen Begleiterscheinungen der Pest zu mildern, erfand man das Kölnisch Wasser.

Solch extreme Lebensumstände, wie wir sie heute erleben, haben die Tendenz, bei der Bevölkerung irrationale Reaktionen auszulösen – heute getraut sich kaum jemand in der Öffentlichkeit zu niesen… er muss befürchten, im besten Fall verbal verunglimpft zu werden – von Lynchaktionen habe ich bisher (noch) nichts gelesen oder gehört. Dabei äussert sich eine Corona-Infektion, wenn überhaupt, durch husten. Das war in den Pestzeiten schon was anderes – der Husten spielte überhaupt keine Rolle. Die Beulenpest kündigte sich nämlich durch einen massiven Schnupfen an – mit dem Niesen respektive durch die dabei «verteilten» Tröpfchen – löste man bei den Betroffenen die Lungenpest aus – und die war – im Gegensatz zur Beulenpest – garantiert innert ein paar Tagen tödlich. Die Konsequenz: wenn in den Pestzeiten jemand geniest hat – kam von den unmittelbar in der Nähe befindlich Personen ein lauter «Gesundheit!»-Aufschrei – in der Hoffnung, selber nicht infiziert worden zu sein.

Heute haben wir das Glück, dass viel mehr Wissen vorhanden ist – wir wissen heute, wie die Viren übertragen werden, unsere Forscher werden in absehbarer Zeit einen Impfstoff entwickelt haben – wir werden diese «Seuche» in den Griff bekommen.

Die damalige Unwissenheit hat dem Aberglauben kräftige Nahrung verschafft – was in der heutigen Zeit natürlich nicht mehr der Fall sein wird – wir haben ja die Wissenschaft und das «Toilettenpapier», was uns erlaubt, die Situation vollumfänglich im Griff zu haben.

Ebenfalls ein Relikt aus der Pest: im Osten der Altstadt kann man unter dem «Storchennest-Turm» hindurchgehen oder -fahren, ohne zu hinterfragen, dass man unter einem Turm eigentlich gar nicht hindurchgehen kann, ein Turm hat keinen Durchgang. Dies ist aber heute möglich, weil durch die vielen Pesttoten der Friedhof ausserhalb der Stadt, im heutigen Stadtpark angelegt wurde – die Kapelle, das Gebeinehaus und das Kreuz sind noch markante Zeugen. Damit man nicht bei jedem Begräbnis den grossen Umweg via das Obertor machen musste, beschloss man, aus dem Storchennestturm ein «Storchennest-Törchen» zu machen, man öffnete den Turm, sodass ein direkter Zugang zum Friedhof ermöglicht wurde.

Was die Pest ebenfalls von der Corona-Zeit unterscheidet: sie hat Spuren hinterlassen. Speziell in Rheinfelden, wo die Sebastiani-Bruderschaft (Sebastian war der Pestheilige) noch heute jeweils an Heiligabend und in der Silvesternacht die Brunnen besingen, aus Dankbarkeit, dass die Stadt auch in diesem Jahr wieder von der Pest verschont wurde. Jahrhunderte lang ging man davon aus, dass das Wasser der Brunnen die Pest brachte.

Aber die Spuren der aktuellen Pandemie werden in ein paar Jahren vermutlich nicht mehr sichtbar sein. Obwohl es wünschenswert wäre, wenn die neu-entdeckten, solidarischen Werte und die Empathie, die anscheinend in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen schienen, uns als durch Corona neu-gewonnene Werte (Spuren) erhalten blieben.


Etymologie aus den Pestzeiten:

Die Luft ist rein: ein Gebiet ohne Pest
Gesundheit!: hoffentlich hat das Niesen mich nicht angesteckt
Der Fresszettel: Heiligenbilder aus Papier, die man geschluckt hat
Kölnisch Wasser: wurde gegen den Gestank der Pest entwickelt
Quarantäne: Venedig internierte ankommende Schiffsmannschaften 40 Tage lang auf einer Insel, um abzuwarten, ob diese keine Krankheitssymptome aufwiesen


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