«Männer sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen»

  05.02.2020 Fricktal, Rheinfelden

Interview mit dem Leiter des RAV Rheinfelden

Gemäss Nikolaus Güntert sucht eine arbeitslose Person im Alter zwischen 50 und 64 Jahren im Durchschnitt mehr als 300 Tage, bis sie wieder eine neue Stelle gefunden hat.

Bernadette Zaniolo

NFZ: Herr Güntert, 2017 haben Sie ihre Tätigkeit als Leiter des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums RAV in Rheinfelden angetreten. Macht Ihnen der Job immer noch Freude?
Nikolaus Güntert:
Ja, die Arbeit gefällt mir, insbesondere die Vielseitigkeit der Aufgaben und die Arbeit mit Menschen. Als Fricktaler erachte ich es ausserdem als Privileg, hier arbeiten zu dürfen und einen Beitrag dazu zu leisten, die Dienstleistungen des RAV für unsere Stellensuchenden bestmöglichst zu gestalten.

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz hat Ende Dezember ein Rekordtief erreicht. Im Aargau hat sich die Zahl der Stellensuchenden im Dezember aber leicht erhöht. Wie sieht das im Fricktal aus?
Das Fricktal liegt im kantonalen Durchschnitt (2,7 Prozent). Ende letzten Jahres lag die Arbeitslosenquote im Bezirk Laufenburg bei 2,5 Prozent, im Bezirk Rheinfelden bei 2,9 Prozent. In der Schweiz waren es am Jahresende 2,5 Prozent und im Aargau betrug sie 2,7 Prozent.

Warum ist die Arbeitslosigkeit im Bezirk Rheinfelden höher als im Bezirk Laufenburg?
Die Ursache für diesen Unterschied ist schwierig zu erklären, da mir dafür kein sicherer, statistischer Vergleich zwischen den beiden Bezirken bekannt ist. Primär ist von einem Unterschied innerhalb der Gruppen von Stellensuchenden aber auch der Verfügbarkeit entsprechender Arbeitsplätze auszugehen, die diesen Unterschied ausmacht. Gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft und Arbeit (SECO) sind unter anderem Faktoren wie die Anzahl Grenzgänger sowie der Anteil Stellensuchender aus saisonalen Branchen zu berücksichtigen.

Wer ist am meisten von Arbeitslosigkeit betroffen?
Männer sind mit einem Anteil von 60 Prozent gegenüber Frauen mit 40 Prozent häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. Der Anteil ausländischer Stellensuchender im Vergleich mit Schweizern ist ungefähr hälftig. Den grössten Anteil der Stellensuchenden bilden die 25- bis 49-Jährigen. Ältere Stellensuchende sind nach ihrer Anmeldung durchschnittlich drei Mal länger beim RAV als Stellensuchende zwischen 15 bis 24 Jahren, bis sie wieder eine Stelle gefunden haben. Im Durchschnitt sucht eine arbeitslose Person im Alter zwischen 50 und 64 Jahren mehr als 300 Tage, bis sie wieder eine neue Stelle gefunden hat.


«Arbeitslosigkeit kann jeden treffen»

Was wünscht sich der RAV-Leiter von Stellensuchenden und Arbeitgebern?

Nikolaus Güntert, der Leiter des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) Rheinfelden, weiss: Ein Verlust der Arbeit führt oft zu Existenzängsten und emotionalen Belastungen. Im Gespräch mit der NFZ äussert er sich über Massnahmen zur Wiedereingliederung, einem oft gehörten «Vorwurf» und was er sich von den Stellensuchenden wünscht.

Bernadette Zaniolo

NFZ: Herr Güntert, wie werden die Stellensuchenden bei der Wiedereingliederung unterstützt?
Nikolaus Güntert:
Bei älteren Stellensuchenden stehen unter anderem spezielle arbeitsmarktliche Massnahmen zur Unterstützung in der Stellensuche zur Verfügung. Sei dies in Form eines gezielten Coachings mit Beratung und Networking oder mit der gezielten Unterstützung bei der Einarbeitung in eine neue Tätigkeit. Auch für jüngere Stellensuchende stehen Möglichkeiten für Praktika zur Verfügung, beispielsweise nach erfolgtem Lehrabschluss.

Insgesamt verfügt der Kanton Aargau über ein umfassendes Angebot an arbeitsmarktlichen Massnahmen und Kursen zur beruflichen Wiedereingliederung. Es gibt auch spezielle Angebote für Fremdsprachige und Kaderleute. Dieses Jahr werden wir im Kanton Aargau ausserdem im Rahmen des vom Bundesrat beschlossenen Impulsprogramms für schwer vermittelbare Stellensuchende entsprechende Angebote prüfen.

Gib es Zahlen, wie erfolgreich dies ist?
Die Abteilung Logistik Arbeitsmarktlicher Massnahmen des Amtes für Wirtschaft und Arbeit (AWA) als Beschafferin dieser Massnahmen führt Controllingaufgaben durch. Sie misst dabei die Wirkung und weisst diese für unser Personal aus, so dass die Effektivität der einzelnen Angebote ersichtlich ist.

Was heisst das nun? Wie wirksam sind diese Massnahmen effektiv?
Handelt es sich um ein Angebot mit einem gezielten Integrationsauftrag, wird nach Abschluss der Massnahme das Ergebnis erfasst und damit ist auch die Vermittlungsquote ersichtlich. Handelt es sich um Sprachkurse, Standortbestimmungskurse oder ähnlich, kann ein späterer Vermittlungserfolg nicht direkt in Zusammenhang mit der Massnahme gebracht werden, jedoch können und sollen solche Kurse eingliederungsunterstützend sein. Ein Standortbestimmungskurs kann beispielsweise eine gute Orientierungshilfe sein, die Motivation fördern, die Verarbeitung der Kündigung unterstützen etc.

Worin sehen Sie Ihre Hauptaufgaben?
Als Leiter des RAVs stehe ich in der Verantwortung gegenüber unseren Stellensuchenden, den Mitarbeitern des RAV Rheinfelden sowie meinem Arbeitgeber. Die Stellensuchenden sollen durch das RAV in der Arbeitssuche möglichst optimal unterstützt und beraten werden. Dazu ist sowohl Empathie als auch Konsequenz und Transparenz wichtig. Es hilft niemandem, von möglichen Traumjobs zu reden. Wir sind auch dem Gesetzgeber gegenüber verpflichtet, realistische Lösungen zu suchen und den Such- und Orientierungsprozess anzustossen und im Verlauf auch wieder zu hinterfragen.

Die Stellensuchenden sollen ausserdem möglichst zu Beginn über ihre Rechte und Pflichten informiert werden, um Missverständnisse möglichst zu vermeiden und gemeinsam einen konstruktiven Weg zu gehen. Dazu existieren auch obligatorische E-Learningmodule, welche die Stellensuchenden von zu Hause aus bearbeiten können und so über die wichtigsten Informationen verfügen. Bei uns sollen alle dieselben Rechte und eine adäquate Beratung erhalten. Wir wollen den Stellensuchenden offen und wertfrei begegnen. Arbeitslosigkeit darf heute kein Stigma mehr sein und kann in der heutigen, schnelllebigen Zeit mit ihren besonderen Herausforderungen jeden treffen.

Es heisst «Regionales Arbeitsvermittlungszentrum», aber ich habe eher den Eindruck, auch was ich von Stellensuchenden höre, dass es mehrheitlich ein «Formalitäten- und Kontrollzentrum» ist. Was meinen Sie dazu?
Natürlich werden wir immer wieder mit solchen Aussagen konfrontiert. Tatsächlich ist es immer ein Dialog mit dem Stellensuchenden, den wir versuchen, wertschätzend zu gestalten. Hier sind wir auf eine Kooperation des Stellensuchenden angewiesen. Ist ein Stellensuchender engagiert und interessiert, möglichst eine neue Stelle zu finden, können wir ihn mit Motivation und Beratung unterstützen. Leider ist dies nicht immer möglich, so dass auch Sanktionen ausgesprochen oder Anträge für Kurse und anderes abgelehnt werden müssen. Hier stehen wir aufgrund unseres Kernauftrages als Berater und «Versicherungs»- Dienstleister automatisch in einem Spannungsfeld. Umso wichtiger ist es für uns, bewusst und fair mit dieser Herausforderung umzugehen. Manchmal müssen wir aber auch den «juristischen Hut» anziehen, wenn wir einen Missbrauch dieses Sozialwerkes beziehungsweise der Arbeitslosenversicherung feststellen.

Im Volksmund heisst es manchmal, dass es einem finanziell besser geht, von der Sozialhilfe unterstützt zu werden, als arbeitstätig zu sein und alle Kosten selbst zu bezahlen. Was sagen Sie dazu?
Der Bezug von Sozialhilfe bedeutet immer auch Verlust von Autonomie. Ausserdem besteht eine Rückzahlungspflicht, was weniger für diese These spricht.

Vor Weihnachten konnte man in der NFZ lesen, dass sich die Gemeinde Frick stark engagierte und dadurch dort 30 Menschen den Weg aus der Sozialhilfe fanden. Was macht das RAV für Langzeitarbeitslose?
Ende vergangenen Jahres wurde die Kooperation Arbeitsmarkt (KoAm) in allen Aargauer RAVs eingeführt. Dieses Modell ist schweizweit einzigartig und beinhaltet eine engere Zusammenarbeit mit der IV, verbunden mit der Dienstleistung für Stellensuchende und Arbeitgeber aus einer Hand. Für die Gemeinden beziehungsweise deren Sozialdienste bieten wir neu eine kostenpflichtige Arbeitsmarktintegration für Sozialhilfebeziehende an. Diese wird durch dafür geschulte Integrationsberatende ausgeführt und beginnt mit einem Assessment bei uns. Dieses Angebot besteht auch für Flüchtlinge.

Seit November 2019 arbeiten ausserdem zwei Eingliederungsberatende der IV-Stelle Aargau drei Mal wöchentlich bei uns.

In der Statistik gibt es eine Sparte «Arbeitslose» und «Stellensuchende». Dabei fällt auf, dass die Zahl der Stellensuchenden oft zwischen 50 und 100 Prozent höher ist, als jene der Arbeitslosen. Sind bei den Stellensuchenden also auch die ausgesteuerten Personen erfasst, die weiterhin Zugang zur Stellendatenbank haben?
Die Arbeitslosenstatistik des SECO weist alle bei den RAVs angemeldeten stellensuchenden Personen aus. Die angemeldeten Personen haben uneingeschränkten Zugriff auf die Stellendatenbank und sind auch für Arbeitgeber sichtbar.

Die Erfassung erwerbsloser Personen hingegen findet mittels telefonischen Stichproben durch das Bundesamt für Statistik statt und weist eine höhere Anzahl Personen aus. Es werden dabei auch jene Personen erfasst, die nicht beim RAV gemeldet sind, jedoch trotzdem aktiv auf Stellensuche sind und keinen Erwerb haben.

Dann ist es aber eine Beschönigung der Arbeitsmarktsituation, heisst die Zahl der effektiv Arbeitslosen ist nicht tiefer als teils in anderen Ländern.
Tatsächlich wird die Erfassung der Erwerbslosigkeit nach internationalen Standards erhoben und ist somit vergleichbar. Nicht hingegen die Arbeitslosenstatistik, welche unter anderem ausgesteuerte Personen nicht erfasst.

Was wünschen Sie sich von den Arbeitsuchenden?
Eine möglichst positive Haltung und die Bereitschaft, ihre Situation zu reflektieren und klare Strategien zu entwickeln. Menschen, die mit einer vorurteilsfreien, offenen Haltung zu uns kommen.

Ein Verlust der Arbeit führt oft zu Existenzängsten und emotionalen Belastungen (Life events). Heute kennt man auch die Phasen, die eine Person nach dem Verlust einer langjährigen Stelle durchlaufen kann, welche dem Trauerprozess ähnlich sind. Dies gilt es – soweit es die gesetzlichen Rahmenbedingungen zulassen – zu berücksichtigen.

Was wünschen Sie sich von den Arbeitgebenden?
Wir freuen uns, unser Netzwerk weiter auszubauen und neue Arbeitgebende von unseren Dienstleistungen überzeugen zu können. Wir denken, wir sind ein attraktiver Partner mit viel Know-How.

Bereits heute verfügt unsere Arbeitgeberberatung über ein Netz an Firmen im Fricktal, mit welchen wir eine gute Zusammenarbeit pflegen dürfen. Mit der neu eingeführten KoAm sind wir daran interessiert, Arbeitgebende zu finden, welche offen sind für Abklärungsplätze oder Festanstellungen von Sozialhilfebeziehenden und Flüchtlingen, welche motiviert sind im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.

Was empfehlen Sie den Jugendlichen für deren berufliche Zukunft?
Viele Tätigkeiten sind aufgrund der Digitalisierung in ihrer Existenz gefährdet. Unter anderem der Detailhandel und Bereiche der Administration sind davon betroffen. Ich erachte es jedoch als wichtig, dass gerade junge Menschen einen Beruf ergreifen, für den sie auch motiviert sind und Freude haben.

Wichtig dabei ist, seine eigenen Stärken und Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Bei einer vorhandenen beruf lichen Grundausbildung stehen heute aufgrund der Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems etliche Wege offen. Selbstverständlich ist dafür die Bereitschaft für lebenslanges Lernen und eine gewisse Flexibilität Voraussetzung.


Das RAV Rheinfelden

Seit 2017 leitet der 50-jährige Ueker Nikolaus Güntert das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) in Rheinfelden. Aktuell berät das RAV Rheinfelden zirka 1700 Stellensuchende aus 28 Gemeinden. Das Team besteht aus insgesamt 27 Mitarbeitenden. Arbeitgeber, welche eine freie Stelle haben, können sich gerne melden. Im Rahmen des Programms «Kooperation Arbeitsmarkt» ist das RAV auch über Abklärungsplätze mit der Möglichkeit auf eine Festanstellung froh. (bz)

RAV Rheinfelden, Telefon 061 836 94 44; E-Mail: rav.rheinfelden@ag.ch

www.kooperation-arbeitsmarkt.ch


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