Rosenthalers Kreis des Lebens

  27.02.2019 Rheinfelden

Inspiriert von den nordamerikanischen Ureinwohnern

Der Rheinfelder Künstler Kurt J. Rosenthaler hat viel von der Welt gesehen. Prägende Erinnerungen hat er nun nach indianischem Brauch festgehalten.

Ronny Wittenwiler

Kurt J. Rosenthaler hat an diesem Morgen, es ist Freitag, der 22. Februar, seinen vorerst letzten Pinselstrich gesetzt. Rund einhundert Stunden Arbeit, angefangen im Januar, liegen hinter ihm und vor ihm auf dem Tisch breitet sich in schlichten Farbtönen gerade sein bisheriges Leben aus. Rosenthaler hat es verewigt, mit Acryl und Hingabe, auf einem Ziegenleder. Am Tag zuvor der Anruf auf der Redaktion. Er habe da was. Vielleicht wär’s eine Geschichte wert. «Ich habe meinen eigenen Winter Count gemalt.» Winter was?

Am andern Tag ist die NFZ zu Besuch im Atelier an der Kupfergasse und Rosenthaler erzählt. Winter Counts – zu Deutsch: Winterzählungen – seien Bildkalender oder Geschichten von Ureinwohnern in Nordamerika. Vor allem die Sioux hätten diese Tradition gepflegt. «Einmal im Jahr hielt der Medizinmann oder ein anderer Geschichtsschreiber die wichtigsten Ereignisse des Stammes in Form von Symbolen oder Zeichnungen auf einem Bison- oder Hirschfell fest. Eine Schrift kannten sie nicht.»

Es war ihre Art, die Erinnerung am Leben zu erhalten, sie zu bewahren für die nachkommenden Generationen. Der Winter Count begann immer in der Mitte des Leders und wurde spiralförmig fortgeschrieben respektive gezeichnet.

Eine Geschichte nimmt ihren Lauf
«Das da», sagt Rosenthaler und zeigt auf eine gelbe Sonne mit sechzehn Strahlen. «Das ist das Symbol von New Mexico. Das war 1973. Zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Pferd geritten.» Ein Jahr später, 1974, an der Grenze zu Mexiko. Rosenthaler zeigt auf einen gemalten Revolver. «Da wurde ich des Lebens bedroht.» Viel ist er herumgekommen in der Welt, der Rosenthaler, vor allem in jungen Jahren. Mit dem Zug nach Ostasien, ein Leben als Reiseleiter durch die Reservate der nordamerikanischen Indianer, Alpsommer in der Schweiz, er hat Israel gesehen und die Büste der Nofretete in Berlin fotografiert. Seine Zeichnungen auf dem Ziegenleder zeugen von alldem, jede einzelne ist ein Stück Geschichte seines Lebens, das am 21. Juni 1946 angefangen hatte. Wir sehen ein Baby, darüber eine Krone. «Ich kam im Fürstentum Liechtenstein zur Welt.» Ein Jahr später folgte der Umzug nach Rheinfelden, die Geschichte nimmt ihren Lauf und bald schon wurde aus Rosenthaler ein Reisender.

«Und wenn ich einmal nicht mehr da bin»
Mythologien und Religionen haben es ihm angetan. Zeitlebens taucht er ein in fremde Kulturen, bleibt Künstler und Wissbegieriger gleichermassen. Die Ureinwohner Nordamerikas ganz besonders liessen ihn nie mehr los. Und so erzählt Rosenthaler noch einmal: «Die indianischen Geschichtsschreiber gaben ihre Winter Counts jeweils an ihre Nachfolger weiter und erklärten ihnen die Bedeutung der Zeichnungen, von denen jedes Jahr eine neue hinzukam.» So wurde das Wissen eines Stammes und dessen Geschichte weitergegeben. «Nein», antwortet Rosenthaler auf die Frage, ob jemand anderes seinen Winter Count dereinst fortführen soll. Das Kunstwerk ist Rosenthalers ganz persönlicher Kreis des Lebens geworden. Im nächsten Winter will er dann mit einer neuen Zeichnung ein für ihn besonders prägendes Ereignis im 2019 hinzufügen. «Und wenn ich einmal nicht mehr da bin», sagt er, «dann kann man von mir aus als letztes Symbol ein Kreuzchen malen. Oder lieber ein Wölkchen.» Bis es soweit ist, hätte der Rheinfelder Künstler übrigens noch ziemlich viel Platz auf seinem Ziegenfell. «Wenn ich schön weiter den Kreis fortsetze und hier vielleicht ein wenig murkse», jetzt zeigt er an den seitlichen Rand des Fells – «ja dann sind noch einige Jahre möglich.» Tatsächlich: von Auge den verbleibenden Platz auf dem Leder geschätzt, läge seine Lebenserwartung ungefähr bei 110 Jahren.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote