Benötigt die Gesellschaft noch Journalismus?
23.02.2019 FricktalGastbeitrag* von Prof. Dr. Otfried Jarren, Universität Zürich, Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK)
SCHWEIZ. Wer von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, liest regelmässig die Gerichtsberichtserstattung? Wer von Ihnen liest regelmässig die Berichterstattung über Afrika?
Was meinen Sie: Ist die Gruppe an Personen, die sich für die Gerichtsberichterstattung oder Berichte über Afrika interessiert, gross oder klein? Ist die Bereitschaft von Personen, für die Gerichtsberichterstattung oder Afrika-Themen zu bezahlen hoch oder gering? Gibt es folglich überhaupt einen Markt für die genannten Berichterstattungsbereiche? Gibt es genug Leser, die bereit sind, dafür zu bezahlen? Manche werden antworten: Ja, aber es hängt vom Preis ab, oder es kommt auf das genaue Thema an, oder es kommt auf das eigene Interesse im Moment, da ein Angebot gemacht wird, an oder aber es kommt darauf an, ob es weitere Nachrichtenquellen gibt und was die kosten.
Jetzt haben Sie vielleicht die Frage, dass es auch auf die Qualität ankäme, vermisst. In der Tat: Es kommt dann im Moment der Nutzung auch noch darauf an, ob die Qualität stimmt. Das aber weiss man immer erst nach der Nutzung. Sind wir also bereit, die Katze im Sack zu kaufen, also vorher für etwas zu zahlen, was wir noch nicht sicher beurteilen können? Oder würden wir nach der Nutzung freiwillig zahlen? Und wie hoch darf der Preis dann sein?
Was ist Journalismus Wert?
Wir haben, wenn wir von Medieninhalten und journalistischen Produkten sprechen, weder ein sicheres Qualitäts- noch ein Preis-Leistungs-Verständnis. Und das ist derzeit ein Problem von gesellschaftsweiter Relevanz. Was ist Journalismus Wert?
Als wir noch ausschliesslich gebündelte Produkte und das Abonnementsprinzip hatten, hat uns das nicht interessiert. Wir konnten nicht wirklich wählen. Allenfalls haben wir den Sport- oder Kulturbund, obwohl mit bezahlt, schlicht ignoriert. Neu unter digitalen Bedingungen ist, dass wir – vielfach sogar situativ – bestimmen, ob und was wir auf welchem Kanal nutzen. Die Texte fliessen zu uns. Zwischen den E-Paper-Apps können wir problemlos hin und her wechseln – und zwischendrin surfen wir.
Die Nutzer bestimmen
Die Nutzung bestimmen nicht mehr die Anbieter mit ihren gebündelten Leistungen, also die Presse oder die Fernsehveranstalter mit ihren linearen Programmen, sondern das definieren wir, die Nutzer. Es gibt weder Redaktionsschluss wie fertige Nachrichten für uns. Alles fliesst, alles ändert sich. Wir sind in einem Nachfragemarkt – nicht mehr in einem Anbietermarkt.
Komplexe Themen in Gefahr
Unter digitalen Anbieter- wie Angebotsbedingungen wird es offenkundig schwieriger, die genannten Inhalte – und diese stehen hier exemplarisch für bestimmte journalistische Produkte – zu erzeugen und anzubieten. Denn die Produktion ist aufwendig: Gerichtsverhandlungen können über Tage gehen. Und bei der Afrika-Berichterstattung sind Investitionen zu tragen. Weil es eben unsicher ist, ob und wer daran Interesse hat und dafür zu zahlen bereit ist, steigt das ökonomische Risiko im Journalismus an. Das zumal dann, wenn das Produkt nicht wieder verwertet werden kann. Wer wagt sich an die Afrika-Berichterstattung?
Aus Sorge vor diesem möglichen Verlust an Themen, fördern nun Stiftungen journalistische Vorhaben, zum Teil fördern sie auch Medien: Weil man bestimmte Themen, sogenannte demokratierelevante, Inhalte haben möchte, fördert man. Doch reicht dieser Ansatz, so gut er gemeint sein mag, aus?
Zum einen: Gehören Gerichts- oder Afrikaberichterstattung zu den demokratierelevanten Inhalten? Wir sehen schon die Mitglieder der Kommission vor uns, die das zu entscheiden hätten. Was gehört dazu, was nicht, in welcher Qualität und zu welchem Preis soll angeboten werden?
Die Förderung von Medien wie Journalismus unter dem Themenaspekt greift zu kurz. Der Ansatz geht zwingend davon aus, dass es bestimmte Inhalte geben sollte, die jeder Einzelne genauso benötigt wie die Gesellschaft insgesamt. Klar ist für die einen: Afrika gehört nicht zur Schweiz, also keine Förderung. Andere sehen das anders.
Bei Förderansätzen zugunsten bestimmter Themen wird immer etwas übersehen, vor allem wird Wichtiges sogar systematisch übersehen, nämlich das, was erst zukünftig relevant sein wird. Das wissen wir nämlich alle noch nicht.
Journalistin überwacht Rechtssystem
Wenn wir die Institution Journalismus mit Blick auf Fördermassnahmen betrachten, geht es nicht nur um Themen. Vielmehr leisten Medien und Journalisten einen wichtigen Beitrag als intermediäre Institutionen der Gesellschaft. Doch wer zahlt für diese institutionelle Leistung?
Nimmt eine Journalistin an einer Gerichtsverhandlung teil, so stellt sie vielfach die einzige Vertreterin der Öffentlichkeit dar – neben der angeklagten Personen, seinem Verteidiger, einem Vertreter der Anklage und den Gerichtspersonen. Die Journalistin wacht durch Co-Präsenz über das Schalten und Walten im Rechtssystem. Unsere Journalistin wirkt schlicht durch ihre Anwesenheit. Sie kann, muss aber nicht über den Prozess, an dem sie teilnimmt, berichten. Allein ihre Anwesenheit ist institutionell relevant. Sie ist demokratierelevant, weil ein Teil des demokratischen Gemeinwesens beobachtet und reflektiert wird. Zudem erreicht das Gericht durch die Berichterstattung, dass die Öffentlichkeit wieder einmal auf Basis eines einzelnen Urteils orientiert wird, über das Einhalten der Regeln und Normen. Gesetzeskenntnisse werden so vertieft oder können zum Kopfschütteln führen – mit Folgen für politische Änderungswünsche. Dann kann es dazu kommen, dass der Gesetzgeber tätig wird, um Normen wie Regeln zu verändern. Vermittels der journalistischen Tätigkeit, die in Medienberichterstattung münden kann (aber nicht muss), werden beständig rechtliche oder politische Institutionen reflektiert, ab und an sogar kontrolliert. Es werden Veränderungsprozesse angestossen. Normvermittlung, Normverständnis, Normstreit – vor aller Augen ausgetragen und nachvollziehbar gemacht, das ist eine bedeutende Leistung.
Gegen Willkür und Korruption
So wie die Anwesenheit eines Journalisten an einer Gemeinderatssitzung nicht allein wegen der verhandelten Sachverhalten, sondern auch institutionell relevant ist. Das zumal dann, wenn ausser den gewählten Vertretern keine weitere Person anwesend ist. Aus der international vergleichenden Forschung wissen wir, dass das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein von Lokalmedien einen Einfluss darauf hat, ob es mehr oder weniger Korruption bei Behörden gibt.
Journalismus wie Medien agieren als Intermediäre: Sie repräsentieren Interessen wie Werte und leisten Vermittlung. Die Anwesenheit einer Journalistin aus der Schweiz in einer afrikanischen Region stellt eine Repräsentation anderer politischer, ökonomischer, kultureller wie sozialer Interessen wie Werte dar. Durch die Berichterstattung findet in der Schweiz eine institutionelle Reflexion über diese afrikanische Region, ihre Kultur usw. vor dem Hintergrund unserer Einstellungen statt. Das hat unmittelbare Relevanz für unser kulturelles Selbstverständnis, für unsere Demokratie, so wenn bspw. über eine Entwicklungshilfekürzung vs. einer AHV-Erhöhung einmal gestritten werden sollte.
Wenn über Journalismus wie Medien und dessen Förderung gesprochen wird, so wird zumeist über die sogenannten demokratierelevanten Inhalte gesprochen. Es geht aber nicht allein um Themen, schon gar nicht allein um Themen der Politik. Es geht auch um Kultur. Und: Journalismus bietet mehr als Themen und Vermittlung, nämlich: Austausch, Einbezug, Reflexion, Kritik.
Journalismus stellt mittels Präsenz und der Berichterstattung Öffentlichkeit her. Öffentlichkeit für uns alle.
Journalismus müssen wir als Institution sehen, begreifen, finanzieren – und notfalls fördern: Er garantiert durch seine Professionalität für das nötige Mass an Vielfalt wie Informationsqualität. Und Journalismus strukturiert: Journalismus gestaltet diese, löst Folgekommunikation aus – dadurch werden wir einbezogen, wird Teilhabe ermöglicht. Journalismus ist eine intellektuelle Leistung, daher immer wieder für Überraschendes gut. Journalismus stellt Dinge in einen Kontext, rahmt Vorgänge, liefert damit Einordnungsmöglichkeiten. Journalismus fordert zu Stellungnahmen wie Kommentaren auf, bewertet – und löst wieder und wieder allgemein sichtbar wie nachvollziehbar Streit und Debatten aus. Dies leisten Medien, dies tut Journalismus, dies leisten Social Media nicht. Die Frage lautet somit: Ist die Gesellschaft, nein: bin ich, dazu bereit, Journalismus institutionell als notwendig anzuerkennen und somit zu finanzieren?
Meine Antwort auf die Frage ist klar: Wir müssen dazu bereit sein, wenn wir eine einerseits offene und entwicklungsfähige Gesellschaft bleiben und anderseits auch unseren ganz individuellen Gewinn durch journalistische Beiträge haben wollen.
Eine lohnende Investition
Journalismus bleibt gesellschaftlich relevant. Ihn zu finanzieren ist aus legitimer egoistischer Perspektive ebenso relevant wie aus der Einsicht heraus, dass wir ohne Gemeinschaft, ohne Gesellschaft und ohne eine gemeinsam geteilte Öffentlichkeit nicht überleben würden. Und weil dem so ist, wird es in Zukunft sehr unterschiedliche Formen von Journalismus geben. Der Journalismus wird sich unter digitalen Bedingungen also wandeln (müssen): er wird bunter, vielfältiger und er wird nicht mehr nach einheitlichen Normen wie Regeln funktionieren können. Und er wird sich zu einer Dienstleistung entwickeln, wird mit seinen Angeboten uns ansprechen und erwartbare Leistungen erbringen. Die Zeit der industriellen, unpersönlichen Massenproduktion – wie es Zeitungen wie Radio und Fernsehen betrieben haben – ist vorbei.
Es wird also weiterhin Journalismus geben, weil wir ihn benötigen. Wir müssen aber genauer hinschauen, welcher Journalismus welche Bedingungen benötigt, um uns individuell wie uns allen zugleich dienlich zu sein. Die Investition in Journalismus war, ist und bleibt eine kluge Vorsorgeentscheidung. Lassen Sie uns diese Idee teilen und stark machen.
* Zusammenfassung des Referates, gehalten anlässlich des «Communication Summit 2019» von Zürcher Presseverein und Zürcher Public Relations Gesellschaft am 6.2.2019 in der ETH Zürich.