Die Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden und die Pandemien
30.12.2021 RheinfeldenEntstanden durch eine Bazillus-Pandemie – verhindert durch eine Virus-Pandemie
Robi Conrad
In den dunklen Zeiten des späteren Mittelalters, geprägt durch Mangel an Hygiene und schlechter Ernährung – es herrschten paradiesische Lebensräume für Ungeziefer und Krankheiten, da brachten die Schiffsbesatzungen, die mit Waren von Asien nach Europa segelten, uns das Yersinia Pestis – einen Bazillus, übertragen auf die Menschen durch Bisse von Flöhen, die sich zuvor auf infizierten Ratten angesteckt hatten. Die sogenannten Pestzüge begannen Mitte des 14. Jahrhunderts sich in ganz Europa auszubreiten – sie wurden so zu einer jahrhundertlang andauernden Pandemie. Schätzungen zufolge starben etwa 25 bis 30 Prozent der europäischen Bevölkerung an dieser Krankheit. Die Entvölkerung war derart drastisch, dass sich sogar grossteils abgeholzte Waldgebiete wieder erholen konnten. Natürlich wusste man damals nicht, woher die Krankheit kam und wie diese übertragen wurde. Man «schützte» sich mit Amuletten und schluckte kleine Heiligenbildchen (im süddeutschen Raum: die Schluckbildchen / bei uns: die Fresszettel). Das Mittelalter war auch geprägt durch verlorenes Wissen und kaum vorhandener Bildung – und wenn das Wissen fehlt, hat es sehr viel Raum für Aberglauben und Verschwörungstheorien – und so ging man bei der Pest unter anderem von einer Strafe Gottes aus.
Dieser Glaube war in den Leuten tief verwurzelt, deshalb hat man beschlossen, dass es einen Pestheiligen braucht in der Wunschvorstellung damit Gott gnädig zu stimmen. Und weil so ein Heiliger nicht wirklich einfach zu finden war, nahm man einen, der bereits existierte, den heiligen Sebastian – und verpasste ihm ein «Upgrading» zum Pestheiligen. Um seine Wichtigkeit und Stellung zusätzlich zu unterstreichen, gab man ihm zur Unterstützung auch noch den heiligen Rochus als «Assistenten» hinzu. Als im Jahre 1541 die Pest über Köln und Basel den Rhein hinauf in Rheinfelden ankam, wütete die Krankheit so stark wie nie zuvor – Gerüchten zu Folge verstarben in Rheinfelden in diesem Jahr ca. 700 Einwohner (bei einer Einwohnerzahl von ca. 1000). Ob dies stimmt, wissen wir nicht genau – die Zahl scheint etwas übertrieben, meistens verstarb ca. 1/3 der Bewohner einer Stadt.
In dieser Zeit gründeten zwölf Rheinfelder-Bürger die Sebastiani-Bruderschaft (der hl. Sebastian war der Namensgeber). Man wollte uneigennützig der schutzlosen Bevölkerung helfen, Kranke pflegen und auch die Toten bestatten. Ein Gelübde versprach Gott gegenüber, dass jedes Jahr in der Heiligen Nacht und in der Silvesternacht an den Brunnen der Stadt ein Dankeslied gesungen werden soll, in der Hoffnung, dass Gott die Stadt im nächsten Jahr von der Pest verschonen werde (das Brunnenwasser galt damals als Übertrager der Pest). Durch diesen Glauben ist eine der ältesten, heute noch gelebten Traditionen der Schweiz entstanden, diese Bruderschaft lebt noch heute – mit beinahe unveränderten Regeln. Die 12 Brüder singen jedes Jahr an diesen beiden Abenden ihr Lied – mit derselben Melodie und demselben Wortlaut wie anno 1541.
Das heisst, diese Tradition wird seit 480 Jahren jährlich gepflegt, Jahr für Jahr…?
Eigentlich schon – wären da nicht andere Pandemien aufgetaucht!
Das Brunnensingen musste nämlich in den Jahren1918 und 2020 ausfallen – und zwar jeweils wegen einer Pandemie – aber diese beiden Male waren es Viren, die diese Pandemien auslösten – und zwar mutierte Vogelgrippe-Viren.
Gegen Ende des 1. Weltkrieges wurde in Kansas ein junger Geflügelzüchter für die US-Armee rekrutiert – er trug das Grippe-Virus in sich und steckte bereits im Ausbildungslager hunderte seiner Kameraden an. Diese Soldaten wurden dann nach Europa geschickt, um mit den dortigen Truppen vor Ort zu kämpfen und zu helfen, die deutsche Armee zu besiegen. Und so kam es zu einer europäischen Viren-Pandemie, der sogenannten «Spanischen Grippe» (sie wurde einzig in Spanien offiziell thematisiert, Spanien war nicht in den ersten Weltkrieg involviert und kannte deswegen keine Pressezensur). Sie wütete bald in ganz Europa, vor allem aber unter den jungen Leuten, Kinder blieben meistens von einem schweren Verlauf verschont und überlebten diese Grippe sehr oft. Die Spanische Grippe forderte doppelt so viele Tote wie die ganzen vier Jahre Krieg, nämlich ca. 40 bis 50 Millionen – die betroffene Bevölkerung war durch den jahrelang dauernden Krieg schlecht ernährt und die Soldaten von den Kämpfen erschöpft und ausgezehrt, was die Todesrate stark nach oben trieb. Man versuchte die Ansteckungen einzudämmen, mit ähnlichen Mitteln wie wir diese auch in der Corona-Pandemie anwenden: Maskentragen, keine Menschenansammlungen, etc. Und so kam es auch, dass zum Jahresende von 1918 in Rheinfelden zum ersten Mal seit der Pest von 1541 das Brunnensingen der Sebastiani-Bruderschaft nicht stattfinden konnte.
Etwas mehr als hundert Jahre später wurden wir wieder mit einem mutierten Vogelgrippe-Virus konfrontiert. Sein Ursprung entstand anfangs 2019, auf einem Markt in Wuhan/China, wo unter anderem lebendes Geflügel verkauft wurde. Das Virus verbreitete sich innert Wochen auf praktisch der ganzen Welt – ermöglicht durch unsere total vernetzte und mobile Welt; innert weniger Stunden gelangt der Mensch von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent – und mit ihm das Virus.
Dieses Mal traf die Pandemie aber vor allem betagte Personen, oder Personen, die bereits (Vor-)Krankheiten in sich trugen. Natürlich waren in den 100 Jahren seit der letzten Pandemie, der Spanischen Grippe, enorme medizinische Fortschritte gemacht worden, und so wurde «Corona» zwar zu einer weltweiten, aber diese Mal weniger tödlichen Pandemie. Eingrenzen konnte man die Ansteckungen aber auch dieses Mal wiederum vorerst nur mit Schutzmassnahmen, indem die Leute Masken trugen mussten und grössere Menschenansammlungen oder öffentliche Veranstaltungen verboten wurden – das Motto unserer Regierung: «bleiben Sie zuhause».
Und so war es auch dieses Mal eine Pandemie, die zum Jahresende von 2020 zum zweiten Mal das Brunnensingen verunmöglichte. Das Versammlungsverbot und das Singverbot für Laienchöre führten zu diesem Entscheid. Am 24. Dezember 2020 zelebrierte Pfarrer Peter Grüter in der St. Martins-Kirche anstelle der Mitternachtsmesse eine auf 22 Uhr vorverschobene «Christnachtfeier» mit einer begrenzten Besucherzahl – die zwölf Sebastiani-Brüder sassen stumm im Chorraum und ihr Lied wurde ab einem Tonträger abgespielt – etwas, das es bis dahin noch nie gegeben hatte – und in der Pandemie von1918 technisch auch noch nicht möglich war.
So wurde eine kulturhistorisch einmalige Tradition, deren Ursprung in einer Pandemie des Mittelalters lag – im 20. und 21. Jahrhundert jeweils durch eine Pandemie verhindert. Eine fast schon logische Absurdität!
Dieser Text erschien zuerst in den Rheinfelder Neujahrsblättern 2022.