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  23.02.2022 Aargau, Fricktal, Natur

Ein Lebensnetz im Siedlungsraum

Eine Ökologische Infrastruktur mitten im Siedlungsraum? Am Naturförder-Podium des Naturama Aargau im November 2021 diskutierten Fachleute und Publikum intensiv, wie die Natur im Siedlungsraum gefördert und vernetzt werden kann. In Frick setzt man beispielsweise schon länger auf nachhaltige Grünflächen-Pflege.

Stéphanie Vuichard – Naturama Aargau

Die Ökologische Infrastruktur wurde am Podium 2020 als Ausweg aus der Biodiversitätskrise erwähnt. Eine Ökologische Infrastruktur bis 2040 aufzubauen, ist Bundesauftrag für alle Kantone, gestützt auf den Aktionsplan zur Strategie Biodiversität Schweiz. Einmal mehr empfiehlt sich der Aargau als Vorreiterkanton. Zusammen mit den Kantonen Bern und Zürich ist er daran, einen «Werkzeugkasten» zu entwickeln für eine effiziente und praxistaugliche Umsetzung der Ökologischen Infrastruktur.

Was ist die Ökologische Infrastruktur?
Wir Menschen bauen uns eine «graue» Infrastruktur, denn wir benötigen Siedlungen zum Wohnen, Einkaufen und Arbeiten sowie Fusswege, Bahnlinien und Strassen, um von A nach B zu kommen. Ähnliche Infrastrukturansprüche stellen auch Tier-, Pflanzen- und Pilzarten. Sie sind auf hochwertige Kern- und Vernetzungsgebiete angewiesen, um langfristig starke Bestände zu entwickeln, sich auszubreiten und zu wandern. Sie brauchen eine «Ökologische» Infrastruktur (ÖI). Wenn der Mensch das Überleben der Arten sichern will, muss er eine ÖI auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene planen sowie umsetzen. Im Aargau sind aktuell 16 Prozent der Kantonsfläche naturnahe Vernetzungsf lächen oder stehen unter Naturschutz. Für eine funktionierende ÖI wären aber insgesamt etwa 29 Prozent erforderlich. Dabei liegen die grössten Defizite im Ackerbau-gebiet und im Siedlungsraum. Der Fokus des Naturförder-Podiums 2021 lag auf dem bebauten Gebiet, den Dörfern und Städten. Der Siedlungsraum verfügt über ein hohes Potenzial zur Naturförderung, das bisher zu wenig genutzt wird.

Eine Orchidee entzückt die Gemeinde Frick
Als Start in die Podiumsdiskussion wurde das Foto einer Spitzorchis gezeigt, die am Strassenrand eingangs Frick blüht. Aufgenommen wurde diese Naturschönheit von einer Dorfbewohnerin, die ihr Handy zückte und ein Foto zusammen mit der Bitte an die Gemeinde schickte, man möge doch beim Mähen der Strassenränder darauf achten, dass diese Wildorchidee stehen bleibe. Michael Widmer, Gemeindeschreiber von Frick, erzählte stolz von dieser Resonanz in der Bevölkerung: «Die Arbeit des Werkhofs und der Behörde wird ganz offenbar geschätzt!» Die Gemeinde Frick ist zusammen mit der Stadt Zofingen an einem kantonalen Pilotprojekt beteiligt, bei dem eine Methodik erarbeitet wird, um systematisch Potenziale zur Biodiversitätsförderung, Klimaanpassung und Lebensraumaufwertung in Aargauer Gemeinden in Wert setzen zu können. Bereits in den letzten Jahren hat sich Frick zudem eine nachhaltige Grünflächenpflege auf die Fahne geschrieben. «Erfolgsgarant für naturnahe Flächen mit fachgerechter Pflege ist der Unterhaltsdienst. Es sind Werkhofmitarbeitende und letztlich Werkhofleiter, die den Willen und das Know-how für eine artenvielfältige Grünflächenpflege mitbringen», meinte Widmer. «Und ganz wichtig ist, dass man draussen die tollen Beispiele anschauen kann, das motiviert!»

Zwang oder Freiwilligkeit?
Auf Freiwilligkeit und Sensibilisierung nach dem Motto «steter Tropfen» setzt Beat Flach, Aargauer GLP-Nationalrat, Präsident der Stiftung Natur & Wirtschaft und Chefjurist des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA. Seit über 20 Jahren zeichnet seine Stiftung Firmenareale, Kiesgruben und seit Neustem auch Privatgärten aus, wenn mindestens 30 Prozent des Gebäudeumschwungs naturnah gestaltet sind. Flach kennt die skeptischen Blicke und kritischen Fragen: Eine Schotterfläche mit Wildblumen vor dem Firmengebäude? Macht das denn was her? Und wie sieht das mit den Kosten und dem Pflegeaufwand aus? Beat Flach setzt bei seiner Arbeit auf geduldige Information, Weiterbildung und die Vernetzung mit Gartenbaufirmen.

Freiwilligkeit reiche bei Weitem nirgends hin, meinte André Stapfer, Co-Geschäftsführer der schweizerischen Fachgruppe Ökologische Infrastruktur FGÖI. «Es braucht Verbindlichkeit, wenn wir mit der Ökologischen Infrastruktur auf einen grünen Zweig kommen wollen», und er rief in Erinnerung, dass eine Verbindlichkeit für die Erhaltung und Förderung der Natur im Siedlungsraum im Natur- und Heimatschutzgesetz NHG, Art. 18b, mit der Pflicht zum ökologischen Ausgleich schon längst schwarz auf weiss steht. «Leider hapert es beim Vollzug.» Hier hakte Michael Widmer als Verbandspräsident der Aargauer Gemeindeschreiberinnen und Gemeindeschreiber nach: «Mit der Bau- und Nutzungsordnung haben wir einen Hebel in der Hand.» Widmer ist sich einig mit Voten aus dem Publikum, dass man bei Baueingaben Anreize schaffen müsse: eine konsequent naturnahe Umgebungsgestaltung als Gegenleistung für eine höhere Ausnutzungsziffer. Auch steuerliche Anreize für naturnahe Bepflanzungen, einheimische Sträucher, Hochstammbäume oder grössere Sickerf lächen müssten möglich sein. «Naturnahe Gärten und blühende Ruderalflächen müssten so hip und zum Statussymbol werden wie das Fahren eines Tesla», meinte Widmer. Seine Idee für den ÖI-Werkzeugkasten: Analog zum «Energiestadt»- Label sollte ein ÖI-Label für Gemeinden kreiert werden.

Interaktives Podium
Die Moderatorin Bea Stalder, Naturama Aargau, forderte das Publikum zum Mitreden auf. Schnell wurde die Bau- und Nutzungsordnung (BNO) als wichtiges Steuerungsmittel zur Förderung oder zum Schutz qualitativ wertvoller Naturräume im Siedlungsraum ausgemacht. Mit der BNO hat die Gemeinde die Möglichkeit, einheimische Hecken und Biotopbäume zu schützen sowie Grünflächenziffern bei Überbauungen vorzugeben oder negative Entwicklungen wie leblose Schottergärten zu verbieten.

Kritisch wurde angemerkt, dass verschiedene ökologische Aufwertungen im Siedlungsraum schön und gut seien, dass man damit aber noch keine Ökologische Infrastruktur gebaut habe. Dies bestätigte auch Alex Stirnemann, Projektleiter Ökologische Infrastruktur des Kantons Aargau. «Der Kanton erarbeitet derzeit Grundlagen für Gemeinden, die die Themen Klimaanpassung, Freiraumplanung und Ökologische Infrastruktur vereinen sollen.» Diese Grundlagen können Antworten liefern auf die Fragen: Wo hat es bereits ökologisch wertvolle Flächen? Wo sind Lücken in bestehenden Grünkorridoren? Welche Flächen sind Eigentum der Gemeinde? Wo kann mit einfachen Mitteln Grünraum aufgewertet oder vernetzt werden? «Um sicherzustellen, dass biodiversitätsfördernde Massnahmen im Siedlungsgebiet ineinandergreifen und eine Ökologische Infrastruktur ergeben, brauchen Gemeinden zweckdienliche Instrumente. Eine Möglichkeit, die es zu prüfen gilt, wäre ein kommunaler Richtplan, wie ihn beispielsweise die Stadt Baden kennt», sagte Stirnemann, wohl wissend, dass damit die grossen Herausforderungen im Siedlungsraum noch nicht bewältigt sind. Denn hier besteht eine Vielzahl an Grundeigentümerinnen und -eigentümern mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlicher Bereitschaft.

Ein Werkzeugkasten voller Ideen
Deutlich wurde, dass die Ökologische Infrastruktur eine Verbundaufgabe ist, die rasch angepackt werden muss. Es reiche nicht, auf die nächste BNO-Revision zu warten. Der Bund gibt den Takt vor: Bis 2040 soll in der Schweiz eine Ökologische Infrastruktur gebaut sein. Das Publikum wünschte sich eine stärkere Vorbildfunktion des Kantons. Simon Egger, Leiter der Sektion Natur und Landschaft des Kantons Aargau, sagte, der Kanton sei sich der Vorbildrolle durchaus bewusst und nehme diese mit dem Programm Natur 2030 auch wahr. Doch weder Kanton noch Gemeinden könnten die Herausforderung alleine meistern. Deshalb lanciere die Abteilung Landschaft und Gewässer am 2. April 2022 in Aarau die «Vernetzungsplattform Natur 2030», die künftig jährlich stattfinden soll. «Wir laden Gemeindevertreter, Akteure aus der Wirtschaft, Vertreterinnen von öffentlichen und privaten Körperschaften wie auch gemeinnützige Organisationen und Private ein, gemeinsam mit uns wirksame Lösungen für eine Ökologische Infrastruktur zu entwickeln.»

Ausserdem wird es ab Sommer 2022 eine Wanderausstellung zur Ökologischen Infrastruktur geben, die das Naturama Aargau im Namen des Kantons konzipiert. Die Wanderausstellung soll bestehende und neue Akteure über Aufgaben und Möglichkeiten der Ökologischen Infrastruktur informieren und dazu animieren, ihren Teil an Bau und Unterhalt der Ökologischen Infrastruktur beizu-tragen.


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