Gefahrvoller Sommer 1940
21.07.2020 FricktalProjekt «kriegsnachrichten.ch»: Juli, August und September 1940 im Spiegel der Fricktaler Presse
Vom Zusammenbruch Frankreichs niedergedrückt, hatte, am 25. Juni 1940, Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz von Demobilmachung und davon gesprochen, den alten Menschen abzulegen. Die Volksstimme brachte am 2. Juli prominent den tonal gegensätzlichen Tagesbefehl General Henri Guisans zur teilweisen Demobilmachung mit Pikettstellung: «Einzig der Tod befreit den Schweizersoldaten von seiner Pflicht gegenüber dem Vaterland.»
Der Weltkrieg nahm im Juli 1940 eine Wendung. Im bisher mit Grossbritannien verbündeten Frankreich zog sich die Regierung nach Vichy im sogenannt unbesetzten Teil des Landes zurück. Marschall Philippe Pétain regierte dort als Platzhalter der Nazis. Die Volksstimme berichtete am 6. Juli von einer Reaktion auf diese Wendung, einem britischen Angriff auf französische Schiffe (Mers-el-Kébir, 1297 französische Tote). Diese Schiffe konnten Hitler nicht mehr in die Hände fallen. Das Rheinfelder Blatt resümierte Churchill: «Ministerpräsident Churchill … erklärte … dass England in jederzeitiger Erwartung der deutschen Grossoffensive für alle Fälle gerüstet sei.»
Das Thema der kommenden drei Monate war die Operation «Seelöwe», die geplante deutsche Eroberung Grossbritanniens und deren Vorbereitung, die Luftschlacht um England. Die Schweiz wollte überdauern. Wie? Der Frickthaler beschrieb am 12. Juli die Gründung einer Bergbaugesellschaft zur Verhüttung der Fricktaler Erze.
In der entschlossenen Schweiz von 1940 herrschte die verfassungsmässige Ordnung eines demokratischen Volkes. Der Rücktritt des kranken Bundesrats Hermann Obrechts führte zur Wahl des ebenso respektierten Walther Stampfli am 18. Juli. Die Volksstimme nahm die Wahl am 25. Juli, dem Tag des Rütlirapports des Generals, zum Anlass, Pressefreiheit und Mehrparteiensystem zu verteidigen: «Eine Demokratie setzt voraus und kann nur bestehen, dass und wenn jeder Bürger in der Lage ist, sich seine Meinung über die Dinge des Landes einigermassen selbständig zu bilden, und wenn die Meinungsbildung innerhalb gewisser Gruppen vor sich gehen
kann ...»
Am 1. August 1940 gab der General erneut den Ton an. Der Frickthaler druckte die Radioansprache des Oberbefehlshabers: «Erschüttert … fragen sich viele: «Können wir überhaupt Widerstand leisten?» … In [der Frage] liegt eine Verkennung unserer Kraft, unserer Waffen und des natürlichen Schutzes, den uns die unvergleichlichen Widerstandsmöglichkeiten in unserem Gelände, besonders aber in unseren Bergen bieten.»
Das war ein Hinweis auf das Réduit, transportiert durch die Medien: Von der Landesgrenze weg kämpfen, den Hauptwiderstand an den Transversalen Gotthard, Lötschberg-Simplon leisten, und so den Kräfteansatz für einen sorgfältig planenden Angreifer erhöhen und dadurch den Angriff unwahrscheinlicher machen. War Guisan die Verkörperung des Wehrwillens, war er doch keineswegs allein. An der Bundesfeier in Rheinfelden schloss der Redner, Hauptmann Moosmann: «Wenn aber das Unvermeidliche dennoch eintritt, dann sollen unsere Nachkommen dereinst sagen können: Auch die Eidgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts haben ihre Pflicht getan. Wenn wir in diesem Geiste den Freiheitsgedanken in jedem Schweizerherz wachrufen, dann wird unsere Heimat, dieses schöne und freie Land nie untergehen, denn das Tröstliche in allem Dunkel der nächsten Zukunft besteht darin, dass sich die ewigen Gesetze des Rechtes und der Ehre zu keiner Zeit ungestraft verletzen lassen und dass die Hüter der Freiheit, die Streiter für Gerechtigkeit und Menschenwürde in der Weltgeschichte das letzte Wort sprechen werden.»
Die Fricktaler Presse berichtete vom weitergehenden Krieg, so genau dies mit sich widersprechenden Darstellungen der Parteien möglich war. So meldete die Volksstimme am 17. August 1940: «Der Kampf um die Vorherrschaft in der Luft nimmt über England immer grösseren Umfang an.» «Amtlich wird mitgeteilt, dass der griechische Kreuzer ‹Helle› … von einem unbekannten Unterseeboot torpediert worden ist ...» Es handelte sich dabei um einen Anschlag des italienischen Diktators Benito Mussolini.
Der Frickthaler meldete am 21. August die Einnahme Berberas, der Hauptstadt von Britisch Somaliland durch die Italiener. An Raum und Bedeutung wurde dieser britische Rückschlag allerdings durch eine Rede Churchills vom 20. August weit überragt («Never was so much owed by so many to so few»). Das Laufenburger Blatt brachte die wichtige Churchillpassage wörtlich, welche das Freie Frankreich betraf: «Unsere Kameradschaft mit Frankreich findet ihren Ausdruck in General de Gaulle und seinen tapferen Männern.»
Meldungen dieser Art waren eine Voraussetzung für eine realistische Einschätzung der Lage jenseits der Propaganda und damit auch für das Andauern des Widerstandswillens. An diesem war nicht zu zweifeln. Vier Meldungen aus der Volksstimme vom 27. August 1940 allein mögen hier als Belege genügen: Die Verdienstersatzordnung wurde rückwirkend in Kraft gesetzt. Das durch den Militärdienst 1914 –1918 hervorgerufene Elend in vielen Familien sollte sich nicht wiederholen! Der Verband für Waldwirtschaft und die Papierholzverbraucher einigten sich für die Schlagperiode 1940/1941 auf anzubietende und abzunehmende 350 000 Ster Holz. Die Sektion Kraft und Wärme des Eidg. Kriegsindustrie- und Arbeitsamtes hatte den Umbau von 1000 Lastwagen auf Holzgasbetrieb angeordnet und regelte nun die Nachrüstung der Tankstellen. Schliesslich schrieb der Bund Industriegeschichte: «Auf Vorschlag des Kleinen Rates des Kantons Graubünden hat der Bundesrat soeben grundsätzlich beschlossen, eine Konzession zum Bau einer Holzverzuckerungsanlage im Kanton Graubünden zu erteilen.» Diese, von der 1936 gegründeten Zürcher Firma HOVAG betriebene, Anlage, welche Bündner Holz in Treibstoff verwandelte, war eine entscheidende Etappe zu dem, was heute die börsenkotierte Firma Ems-Chemie ist. Am 26. August wurden sowohl London (durch die Deutschen) als auch erstmals Berlin (durch die Briten) bombardiert. Beide Luftangriffe fanden ihre knappe, präzise Darstellung in der Volksstimme vom 27. August.
Das Leben ging seinen Gang: Gemeindeversammlungen wurden gehalten, Lehrerinnen gewählt, Wanderungen propagiert. Die Geflügelfarm Maurer in Wallbach bot Leghornhennen feil, die Metzgerei Sibold in Rheinfelden Kuhf leisch. Aber alles war nicht, wie sonst. Es herrschte Mangelwirtschaft. Die Schwierigkeiten wurde gemildert durch Massnahmen, die von der Rationierung über Verkaufsbeschränkungen (z. B. Brot 24 Stunden später verkaufen), Preiserhöhungen und Propagierung des Dörrens von Obst, Gemüse und Kräutern bis zur Hagebuttensammelaktion reichten. Das Verhältnis zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung blieb gut. «Abschied vom Fricktal», ein am 20. August veröffentlichtes Gedicht eines Emmentalers:
«Bärnerbär u die vo Frick Si guet zäme gsy. Mängi seit bim Abschiedsblick ‹Schatz gäll schryb de gly.›»
Augenblicke kleinen Glücks in Helvetien. Draussen, nicht nur in Deutschland, gebärdeten sich die Kriegsverursacher als Herren der Welt. Stalin konnte in den baltischen Staaten keine unparteiischen Augen mehr gebrauchen. Der Frickthaler meldete am 2. September 1940 die Beendigung der schweizerischen diplomatischen und konsularischen Tätigkeit in Estland, Lettland und Litauen. Dieselbe Nummer des Laufenburger Blattes berichtete auch von Hitlers und Mussolonis Diktat an Rumänien, den Nordteil Siebenbürgens an Ungarn abzutreten, vom stark verharmlosend so genannten Wiener Schiedsspruch.
Anwandlungen von Anpassung ans neue Europa waren die Ausnahme, kamen aber auch bei uns vor, so, wenn am 2. September der Frickthaler einen Schweizer Freund von Nazideutschland, Jakob Schaffner, lobte, allerdings geschickt als Kronzeugen für das Recht der Schweiz auf Eigenstaatlichkeit. Souveräne Eigenstaatlichkeit: Eine ihrer Voraussetzungen, die Wehrhaftigkeit, sollte das von Ernst Leu konzipierte Denkmal auf dem Villigerfeld zeigen (Bild in der Volksstimme, 7. September). Just damals wurde in der deutschen Armeegruppe C an jenem grossangelegten Operationsplan gegen die Eidgenossenschaft gearbeitet, welchen Wilhelm Ritter von Leeb dann am 4. Oktober genehmigen sollte. Wer die Kraft nicht hatte, den Nazis die Stirn zu bieten, geriet in den totalitären Sog. Am 7. September 1940 meldete die Volksstimme die Abdankung des rumänischen Königs Carol II – im September 1939 war schon sein Min isterpräsident Ca˘ linescu ermordet worden. Rumänische Realität war die Übernah-me der Macht durch die Männer Hitlers Ion Victor Antonescu und Horia Sima.
Einen Tag nach diesen Nachrichten übernahmen die Einheiten der Grenzbrigade in Leibstadt ihre Standarten «unter grosser Beteiligung der Grenzbevölkerung» (Volksstimme, 10. September). Der Frickthaler hatte am 11. September den deutschen Blitz gegen London im Lead: «Bis abends 22 Uhr wurde in London sechsmal Fliegeralarm gegeben.» Welche unvereinbaren Prinzipien gegeneinander in einen Kampf auf Leben und Tod getreten waren, machte das Blatt in der Berichterstattung über Rumänien in aller völkermörderischen Deutlichkeit klar: «Für das neue Rumänien sieht die tonangebende Eiserne Garde laut einem Interview ihres Führers Horia Sima innenpolitisch unter anderem die vollständige und endgültige Vernichtung des Judentums und der Freimaurerei, aussenpolitisch die unbedingte Zusammenarbeit mit der Achse vor, …»
Der Frickthaler fragte klug: «Der kritische Monat?» Er berief sich auf halbamtliche britische Quellen und schrieb in präziser, den militärischen Blick verratender Würdigung der kritischen Phase der Luftschlacht um England: «Die deutsche Luftwaffe hat bei ihren Tagesangriffen so schwere Verluste erlitten, dass sie sich gänzlich auf nächtliche Angriffe, besonders der Londoner Gegend, konzentriere.» Die Luftwaffe hatte den kostpieligen, aber schlachtentscheidenden Fokus auf die britischen Fliegerstützpunkte, und damit faktisch die Aussicht auf Sieg, aufgegeben. Die durchscheinende Einschätzung des Laufenburger Blattes, dass sich die Briten zu behaupten vermochten, wurde in Rheinfelden geteilt. Am 17. September waren die allerersten beiden Worte der Volksstimme:
«Ebenbürtige Gegner»
Hitler habe bezeichnenderweise eine Fortsetzung des Krieges angekündigt. «Die Hoffnung auf einen Blitzkrieg auch gegen die britischen Inseln wäre damit
preisgegeben …»
Einen scharfen Blick hatte die Presse für Verletzungen der politischen Formen der Schweizer Demokratie. Als Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz ohne Information des Bundesratskollegiums eine Gruppe von Frontisten und den notorischen Jakob Schaffner in einer Audienz empfing, kritisierte die Volksstimme am 21. September: «Er ist nicht nur auf seinem Ressort-Parkett ausgeglitten, sondern hat im Besonderen als Bundespräsident Methoden eingeführt, die nicht mit dem Kollegialprinzipe im Bundesrat vereinbar sind.» Die Machtergreifung der Nazifreunde in Rumänien war in zu frischer Erinnerung, als dass einer Leserin, einem Leser der Fricktaler Presse hätte verborgen bleiben können, um welchen Einsatz bei Anlässen wie der berüchtigten Audienz des Bundespräsidenten von 1940 gespielt wurde. Das Wächteramt der Presse konnte ernstgenommen werden, weil trotz aller Einschränkungen das freie Wort mutig gedruckt wurde und weil die Demokraten im Lande wussten, wo sie standen. Drüben Bedrohung, menschenverachtende Tyrannei, hier Widerstandswille und Freiheit.