«Ich erlebe oft Berührendes»

  14.01.2022 Rheinfelden

MBF-Stiftungsratspräsident Hans A. Wüthrich im Gespräch

Im September 2020 hat Hans A. Wüthrich aus Rheinfelden das Präsidium des Stiftungsrates der Stiftung MBF übernommen. Viel ist in dieser Zeit passiert.

Susanne Hörth

NFZ: Herr Wüthrich, wenn Sie auf die vergangenen 16 Monate zurückblicken, was hat Sie am stärksten beeindruckt?
Hans A. Wüthrich:
Beeindruckend waren und sind für mich immer wieder die spontanen Begegnungen. In Gesprächen mit Menschen mit Behinderung, Mitarbeitenden und Angestellten erlebe ich oft Berührendes und Unerwartetes. So hat mich eine Unterhaltung mit einem Mitglied des Bewohnerrats, in dem ich eine aussergewöhnliche Empathie gespürt habe, tief bewegt. Es sind Erlebnisse dieser Art, die zeigen, was wir aus Kontakten auf Augenhöhe voneinander lernen können. Auch die im Alltag erlebte hohe fachliche Professionalität und vorbildliche inneren Haltung, mit der unsere Angestellten ihre Berufung leben, sind für mich beeindruckend.

… was hat Sie am meisten beschäftigt?
Nebst den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie haben sich der Stiftungsrat und die Geschäftsleitung im letzten Jahr vor allem mit den laufenden Bauprojekten Wohnheim Linde und Wohnräume Laufenburg, dem Betriebskonzept der HPS Fricktal und dem Schulhaus-Umbau in Mumpf, dem Auf bau der Abteilung Beruf liche Eingliederung und der Fachstelle Agogik sowie führungs- und organisatorischen Themen beschäftigt. Eine weitere Herausforderung in den vergangenen 16 Monaten stellten auch die Kürzungen der Leistungspauschalen dar. die entsprechende Sparmassnahmen erforderten.

Mit der Heilpädagogischen Schule Fricktal ist die Stiftung MBF um einen grossen Bereich gewachsen. Wie gut ist die Integration der neuen Aufgabe mit Kindern und Jugendlichen gelungen?
Die unterschiedlichen Zielgruppen und Betreuungsbedürfnisse der beiden Institutionen HPS Fricktal und Stiftung MBF gilt es zu respektieren und deshalb geht es nicht um eine organisatorische Integration. Im Zentrum steht das synergetische Nutzen der verschiedenen Wissensund Erfahrungshintergründe sowie Kernkompetenzen und die jeweils beste Lösung soll sich durchsetzen. Persönlich bin ich überzeugt, dass beide Organisationen vieles voneinander lernen können und es deshalb entscheidend ist, die Gelingensvoraussetzungen dafür zu schaffen. Auch bei diesem Prozess stehen wir am Anfang eines Weges, der uns fordert. Mit einer Haltung der Offenheit, des gegenseitigen Respekts und einer dialogischen Diskurskultur gilt es diesen zu meistern.

Was waren und sind die Herausforderungen mit der HPS Fricktal?
Am 9. August 2021 hat die HPS Fricktal ihr erstes Schuljahr am neuen Standort in Mumpf begonnen und ich denke, dass wir mit dem umgebauten Schulhaus eine für alle Beteiligten gute Lösung gefunden haben. Dies bestätigt mir auch der Schulleiter. Selbstverständlich gilt es noch einiges zu optimieren. Als Herausforderungen sehen wir die Fortführung der Entwicklung einer neuen Team-Kultur, das weitere gegenseitige Kennenlernen und Nutzen betrieblicher Möglichkeiten innerhalb der Stiftung MBF sowie fortlaufende Anpassungen an sich verändernde Rahmenbedingungen. So zum Beispiel Lehrplan21, schwächer werdende Schülerinnen und Schüler infolge der vermehrten Integration der stärker Begabten in der Regelschule sowie die Gewinnung von qualifizierten Fachpersonen.


«Unser Anspruch: selbstbestimmtes Leben ermöglichen»

Die Stiftung MBF ist längst ein wichtiges KMU in der Region. Für die geschützten Arbeitsplätze sei es entscheidend, dass genügend fähigkeitsadäquate Produktionsaufträge akquiriert werden können, die es erlauben, das Leistungsangebot für Menschen mit Behinderung aufrechtzuerhalten, sagt Hans A. Wüthrich.

Susanne Hörth

NFZ: Herr Wüthrich, wie stark spüren Sie die Unterstützung von den Gemeinden und aus der Bevölkerung?
Hans A. Wüthrich:
Die Unterstützung ist gross und wir spüren sehr viel Sympathie der Stiftung MBF gegenüber. So schätzen wir das Engagement der vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer sehr, die uns über viele Jahre hinweg bei Veranstaltungen und besonderen Einsätzen unterstützen. Auch die Beiträge unserer Vereinsmitglieder und der Gemeinden sind für uns sehr wertvoll. Zudem darf die Stiftung MBF, bereits seit vielen Jahren, für verschiedene Gemeinden Wahlunterlagen konfektionieren und teilweise auch verteilen.

Die Stiftung MBF ist zudem ein wichtiges KMU im Fricktal. Was muss getan werden, um bestehende Kunden zu halten, neue zu generieren?
Mit 160 Bewohnerinnen und Bewohnern, 115 Mitarbeitenden an geschützten Arbeitsplätzen, 93 Mitarbeitenden an Beschäftigungsplätzen in den Ateliers sowie Tagesstrukturen für Senioreninnen und Senioren, 94 Schülerinnen und Schülern und 290 Angestellten kommt der Stiftung MBF im Fricktal eine bedeutende Rolle zu.

Um den Verkauf zu stärken, hat die Geschäftsleitung im vergangenen Jahr die Vertriebsstruktur angepasst und die Akquisitionstätigkeit systematisiert. Für die geschützten Arbeitsplätze ist es entscheidend, dass wir genügend fähigkeitsadäquate Produktionsaufträge akquirieren können, die es uns erlauben, das Leistungsangebot für Menschen mit Behinderung aufrechtzuerhalten. Wir sind stolz und froh darüber, dass rund 65 Prozent unserer Kunden aus dem Fricktal stammen und wir mit der Wirtschaft gut vernetzt sind. Durch Qualität und Verlässlichkeit bemühen wir uns, auch zukünftig das Vertrauen unserer Kunden zu rechtfertigen.

Was hat die Corona-Pandemie am meisten bei der Stiftung verändert?
Viele organisatorische Strukturen mussten angepasst werden. So wurden Arbeitsgruppen kurzfristig neu zusammengestellt, die Organisation des Mittagessens angepasst und die Produktion musste teilweise geschlossen werden. Für die Bewohnenden, Mitarbeitenden, Schülerinnen und Schüler brachte die Corona-Pandemie viele Änderungen mit sich. Die Hygienevorgaben mussten geschult und umgesetzt werden, viele Anlässe wurden abgesagt, Feste konnten nicht gefeiert und Ausf lüge nicht durchgeführt werden. Die Besuche waren zeitweise verboten und noch heute sind diese eingeschränkt. Durch die Corona-Pandemie hatte die Stiftung MBF aber auch Umsatzeinbussen in der Produktion sowie Verzögerungen in der Wohnplatzbelegung zu verkraften, was sich auf das Jahresergebnis 2021 ausgewirkt hat.

Auch die Angestellten mussten äusserst flexibel sein. Die erlebte Kreativität beim Finden von Lösungen und das Improvisationsvermögen waren für uns alle beeindruckend.

Im Oktober 2020 hat sich die Stiftung MBF für ein neues Geschäftsleitungsmodell mit mehreren verantwortlichen Personen entschieden. Zuvor war mit dem leider verstorbenen Jean-Paul Schnegg eine einzelne Person als Geschäftsleiter eingesetzt. Hat sich das neue Modell bewährt?
Seit Januar 2021 bildet die Geschäftsleitung als Team das oberste operative Führungsorgan. Das Modell der verteilten und kollektiven Führung bedingt ein anderes Führungsverständnis und wird die Unternehmenskultur der Stiftung MBF verändern. Zu entwickeln gilt es eine Haltung des Zumutens und des Vertrauens, der Ermächtigung und Selbstorganisation. Führungsentscheide und die Führungsverantwortung sollen auf die tiefst mögliche Stufe delegiert und die Angestellten damit konsequent in die Problemlösung miteinbezogen werden. Stiftungsrat und Geschäftsleitung sind sich bewusst, dass dieser Kulturwandel einen längeren Prozess darstellt. Wir haben diese Reise erst begonnen, sammeln Erfahrungen, hören einander zu, lernen voneinander, entwickeln uns weiter und gelangen so gemeinsam zu einer für die Stiftung passenden Lösung.

Die Stiftung MBF war in den vergangenen Jahren stets auf einem Wachstumskurs. Es wurde gebaut und Neues (HPS Fricktal) kam dazu. Soll dieser Wachstumskurs beibehalten werden?
Wachstum allein, darf kein Ziel sein. Die Entwicklungsprioritäten der Stiftung haben sich an den heutigen und zukünftigen Bedürfnissen unserer anvertrauten Mitmenschen zu orientieren. Nach Abschluss wichtiger Bauprojekte und der Aufnahme der HPS Fricktal in die Stiftung MBF sehe ich in den nächsten Jahren eine Phase der Konsolidierung mit punktuellen Leistungsanpassungen.

Was sind die grossen Herausforderungen in den nächsten zehn Jahren?
Den Ausblick auf zehn Jahre wage ich nicht. Als mittelfristige Herausforderungen sehen Stiftungsrat und Geschäftsleitung die zunehmende Verlagerung zu den ambulanten Betreuungsformen und deren Konsequenzen für die Stiftung MBF. Diese sind Teil der UN-Behindertenrechtskonvention und enthalten konkret die Wahl der Arbeits- und Wohnformen, vor allem bezogen auf teilbetreute Varianten. Auch die Themen Inklusion, De-Institutionalisierung sowie das Leben der neuen Führungskultur werden uns zukünftig fordern.

Was wünschen Sie sich am meisten für die Zukunft der Stiftung?
Mein Wunsch ist es, dass wir durch das tägliche Handeln und durch vorausschauendes Denken unserem Anspruch – den uns anvertrauten Menschen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen – stets gerecht werden. Dass wir in der Lage sind, Arbeitsumfelder zu bieten, in denen exzellente Fachpersonen, mit hoher intrinsischer Motivation, ihre Berufung leben und Sinn und Erfüllung erfahren können. Der konsequente Fokus auf diese Ziele bildet für mich die Basis für die Zukunftsfähigkeit der Stiftung MBF.

Die Ankündigung, beim Verein zur Unterstützung der MBF in Zukunft grundsätzlich auf Dankesschreiben zu verzichten, hat bei Vereinsmitgliedern für Gesprächsstoff gesorgt. Was sagen Sie dazu?
Ein grosses Anliegen der Stiftung MBF ist es, dass die Spendengelder sorgsam und dem Zweck entsprechend eingesetzt werden und nicht zum Teil für administrative Aufwände eingesetzt werden müssen. Ergänzend dazu möchte auch die Stiftung MBF ihren Anteil zum Umweltschutz beitragen und Postversände reduzieren. Von einem grundsätzlichen Verzicht auf Dankesschreiben kann nicht gesprochen werden. Stiftungsrat und Geschäftsleitung haben lediglich beschlossen, den postalischen Versand der Verdankungen zu reduzieren. Wir freuen uns sehr, dass wir auf diesen Entscheid bisher viele positive Rückmeldungen erhalten haben. Die Stiftung MBF ist für jede Spende ausserordentlich dankbar und setzt diese, ausserhalb des Betriebsbudgets, zum Wohl der uns anvertrauten Menschen ein.

Wie war für Sie persönlich der Wechsel vom Uni-Professor und Berater/Coach zum Präsidenten des Stiftungsrates der MBF?
Ich hoffe nicht, dass ich meine Rolle als Präsident des Stiftungsrats in der Haltung eines omnikompetenten Silberrückens wahrnehme und der Versuchung erliege, den kompetenten und engagierten Fachpersonen, mit denen ich zusammenarbeiten darf, die Welt erklären zu müssen. Aufgrund meiner bisherigen Gremienerfahrung bin ich überzeugt, dass sich passende Lösungen nur finden lassen, wenn es gelingt, die kollektive Intelligenz zu nutzen und sich alle Beteiligten tagtäglich dem Risiko aussetzen, gemeinsam klüger zu werden.


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