Unterkunft und Perspektive für Obdachlose

  06.06.2020 Fricktal

Aargauer Notschlafstelle wird rege genutzt

Menschen ohne Obdach erhalten in Baden seit neun Monaten einen sicheren Schlafplatz. Auch mehrere Personen aus dem Fricktal haben die erste Notschlafstelle im Kanton Aargau schon aufgesucht.

Karin Freiermuth

Sie leben am Rand der Gesellschaft und suchen Zuf lucht mitten in der Altstadt von Baden: Das Haus Erhart an der Oberen Halde ist der einzige Ort im Kanton Aargau, wo Obdachlose einen menschenwürdigen Schlafplatz erhalten – an 365 Tagen im Jahr. Seit der Eröffnung am 1. September 2019 ist die Bettenauslastung hoch: «Bereits in der ersten Nacht hatten wir Gäste. Ich hätte nie damit gerechnet.», erinnert sich Kurt Adler-Sacher, Präsident des Vereins Notschlafstelle Aargau. Und die Leiterin der Notschlafstelle, Susi Horvath, ergänzt: «In den vergangenen neun Monaten gab es nur drei Nächte, in denen das Haus leer blieb. In der Regel waren stets zwischen sechs und neun Betten pro Nacht belegt.»

Im vierstöckigen Altstadthaus gibt es insgesamt zwölf Betten, wovon sechs für die Notschlafstelle und sechs für die Notpension vorgesehen sind. Denn das Haus Erhart bietet auch Platz für Menschen, die ihre Situation nachhaltig verbessern möchten. Diesen steht mit der Notpension eine langfristige, sichere und betreute Wohnform zur Verfügung. Unterstützt werden sie vom christlichen Sozialwerk «HOPE» in Baden, welches Sozialberatung anbietet. Im «HOPE» gibt es zudem verschiedene Orte und Angebote, an denen sich Armutsbetroffene aufhalten oder beteiligen dürfen.

Das «HOPE» stellt auch ein Frühstück und Mittagessen in seinen Räumlichkeiten zur Verfügung. Das Abendessen hingegen wird in der Notschlafstelle zubereitet – häufig mit tatkräftiger Unterstützung der Gäste. Ab 20 Uhr können diese in die Notschlafstelle eintreten und sich beim gemeinsamen Kochen und Essen beteiligen. Bis 23 Uhr nehmen Susi Horvath und ihre Kollegen Obdachlose auf, danach wird die Tür nur noch geöffnet, wenn die Polizei oder Sanität eine Person vorbeibringt. Morgens um 7.30 Uhr werden die Gäste geweckt. Anschliessend müssen alle die Unterkunft verlassen, um im «HOPE» an der Stadtturmstrasse das Frühstück einzunehmen. Die Notschlafstelle ist tagsüber geschlossen.

Versteckte Obdachlosigkeit
Es sind vor allem Männer, welche die Notschlafstelle aufsuchen. Sie stammen aus dem ganzen Kanton; auch mehrere Personen aus dem Fricktal waren schon froh über die unbürokratische und sofortige Aufnahme in der Notschlafstelle. Warum ihr Leben aus den Fugen geraten ist, hat vielfältige Ursachen. «Man wird nicht aus einem einzigen Grund obdachlos», sagt Kurt Adler-Sacher. «Die Lebensgeschichten der Betroffenen sind häufig komplex. Viele leiden an einer psychischen Erkrankung oder weisen ein Suchtverhalten auf. Es kommen aber auch vermehrt Personen zu uns, die von Armut betroffen sind und ihre Wohnung verloren haben. Manche möchten nicht zum Sozialamt gehen, weil sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit den Behörden gemacht haben oder weil die bürokratischen Abläufe sie komplett überfordern; andere wiederum können gar keinen Antrag auf Unterstützung einreichen, weil sie schlicht keine Adresse haben. Auch im Fricktal leben Menschen in ungeklärter Wohnsituation, übernachten bei Bahnhöfen oder breiten ihre wenigen Habseligkeiten im Wald oder unter einer Brücke aus. Obdachlosigkeit kann jeden treffen.» Und Obdachlosigkeit sei nicht immer auf den ersten Blick sichtbar, erklärt Susi Horvath. So würden einige ihrer Gäste viel Wert auf die äussere Erscheinung legen, seien gepf legt und gut gekleidet.

Sauberkeit hat auch im Haus Erhart einen hohen Stellenwert. Es ist alles blitzblank und die Zweibettzimmer sind stets ordentlich aufgeräumt. Auf jedem Stock steht den Gästen eine Dusche mit Hygieneartikeln und eine Toilette zur Verfügung. Dazu kommt die helle Küche, die auch als Aufenthaltsraum dient. Zudem kann bei Bedarf eine Waschmaschine benutzt werden. Das Team der Notschlafstelle verlangt fünf Franken für eine Übernachtung, inklusive Abendessen, Frühstück und Mittagessen. Ein Betrag, den die Gäste gemäss Susi Horvath gerne zahlen. Und wer gerade keinen Fünfliber habe, werde nicht fortgeschickt. Man habe bis jetzt immer eine Lösung gefunden.

Mehr als nur ein warmes Bett
Die Notschlafstelle ist eine niederschwellige Anlaufstelle für obdachlose und mittellose Menschen ab 18 Jahren. Die Betroffenen haben für bis zu zwei Monaten eine sichere und menschenwürdige Unterkunft. Nicht aufgenommen werden Menschen, die sich selbst- oder fremdgefährdend verhalten. Diese werden vom Betreuungsteam an Fachstellen weitervermittelt. Eine ausserordentliche Vereinbarung gibt es für Arbeitsmigranten ohne Aufenthaltsbewilligung. Sie dürfen maximal eine Nacht bleiben.

Einfühlungsvermögen und Unvoreingenommenheit seien wichtig für ihre Arbeit, genauso aber auch eine gesunde Abgrenzung, betont Susi Horvath: «Bei uns übernachten auch Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Wir wissen nie, wer um 20 Uhr bei uns klingelt. Wir müssen die Situation nehmen, wie sie ist. Ziel ist es, dass sich alle Gäste eine Nacht lang wohlfühlen. Wir können ihnen kein Zuhause bieten, aber zumindest einen Ort, an dem sie nicht verurteilt werden oder Rechenschaft ablegen müssen. Wir fragen niemanden aus. Wenn ein Gast von sich aus erzählen mag, hören wir zu. Wir sind aber keine Therapeuten.» Neben Susi Horvarth arbeiten drei weitere Mitarbeitende in der Notschlafstelle. Unterstützt werden sie von 18 freiwillig Engagierten. So kann gewährleistet werden, dass jede Nacht eine Fachperson und ein Freiwilliger vor Ort sind – ein Anliegen, das Kurt Adler-Sacher von Beginn weg wichtig war, auch im Hinblick auf die Sicherheit. Susi Horvath betont jedoch, dass es in den vergangenen Monaten nur wenige schwierige oder sogar gefährliche Situationen gegeben habe. «Die grosse Mehrheit unserer Gäste hält sich an unsere Hausordnung. Polizeieinsätze waren selten.» Etwas, das auch die Anwohner freut: Diese haben vor der Eröffnung der Notschlafstelle Bedenken geäussert. «Inzwischen berichten sie aber nur Positives. Manche Nachbarn bringen uns sogar Kleider- oder Essensspenden vorbei.»

Dass es eine Notschlafstelle in Baden gibt, ist der IG Notschlafstelle und dem daraus entstandenen Verein Notschlafstelle Aargau zu verdanken. Auch Kurt Adler-Sacher und Susi Horvath üben ihre Tätigkeit mit viel Ausdauer und grossem Engagement aus. Beide wohnen in Zuzgen – ein Zufall, wie sie lachend berichten. Und beiden ist es ein Anliegen, Armutsbetroffenen nicht nur in warmes Bett, sondern einen Ort der Sicherheit und Geborgenheit zur Verfügung zu stellen. «Es ist für uns eine Herzensangelegenheit, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen und ihnen mit Würde und Empathie zu begegnen. Und wir hoffen, dass die Notschlafstelle Aargau auch nach der dreijährigen Pilotphase weiterhin die Türen für Menschen in Not öffnen kann.»


Dreijähriges Pilotprojekt

BADEN. Die Notschlafstelle Aargau öffnete am 1. September 2019 in Baden ihre Türen. Aufgebaut wurde sie vom Verein Notschlafstelle, dessen Mitglieder die katholische Landeskirche im Aargau, die reformierte Kirche Baden, das «BZBplus» Baden sowie das Christliche Sozialwerk «HOPE» sind. Der Verein verantwortet die Notschlafstelle und beschafft die finanziellen Mittel. Betrieben wird die Notschlafstelle vom «HOPE», das im selben Gebäude eine Notpension für längerfristiges Wohnen aufgebaut hat. Es ist die einzige Institution dieser Art im Kanton. Das Angebot ist ein Pilotprojekt von drei Jahren und wird ausschliesslich über Spenden und Kostengutscheine von Kirchen, Ämtern und Privaten sowie aus dem Swisslosfonds finanziert. (kfr)


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