Zehntausende flüchteten in die Schweiz

  04.05.2020 Fricktal

Projekt «kriegsnachrichten.ch» blickt zurück auf 1940

Nur wenige Meter von mir entfernt befindet sich der Grenzstein, welcher das Länderdreieck Frankreich–Deutschland–Schweiz in den Jahren 1871–1918 markierte. Vier Kilometer von hier, am Larginzipfel im Kanton Jura, bei Bonfol, begann die ca. 750 km lange Frontlinie des ersten Weltkrieges. Nur neun Kilometer von hier fiel der erste Soldat dieser weltweiten Gewaltspirale.

1940, 26 Jahre später, geschahen an diesem Grenzabschnitt erneut Ereignisse, welche Europa bewegten und auch in der Fricktaler Presse Beachtung fanden. Zehntausende französische und polnische Soldaten und Zivilpersonen flüchteten damals in die Schweiz, von Genf bis zur Ajoie.

Wie es dazu kam
Nachdem die Kämpfe in Polen 1939 beendet waren, richteten die Nationalsozialisten tausende von polnischen Offizieren, Soldaten und Akademiker hin. Wer entkommen konnte, floh über die Ostsee nach Frankreich, um hier, an der Seite der Franzosen gegen Hitlerdeutschland zu kämpfen. Mit ihnen kamen viele Erzählungen jener Gräueltaten mit nach Frankreich.

Im April 1940 annektierte Hitler kampflos Dänemark, besetzte Norwegen als vorgegebene Schutzmacht. Am 11. April 1940 notiert die Volkstimme aus dem Fricktal an erster Stelle: «In der Nacht von Montag auf den Dienstag hat Deutschland den Krieg auf Dänemark und Norwegen hinübergespielt.» Im Falle Norwegens ging es um die grossen Erzvorkommen um Narvik. Die Engländer marschierten einen Tag vorher in Norwegen ein und verminten die Seefahrtsstrassen mit dem gleichen Ziel. Der Autor der Volksstimme schreibt etwas weiter unten im Abschnitt über Dänemark: «… Angesicht der völligen militärischen Machtlosigkeit Dänemarks ist offenbar nirgends Widerstand geleistet worden.»

Die Welt schaute gespannt auf Nordeuropa. Am 10. Mai, mehr oder weniger überraschend, erkannten das Volk und die Behörde: Die staatliche Neutralität war kein Garant vor Angriffen Hitlerdeutschlands. Ein Rheinfelder Offizier, diensttuend in Zeiningen, schrieb in sein Tagebuch: «Freitag, den 10. Mai 40, Deutschland überfällt Belgien, Holland und Luxemburg. Nachts um 3 Uhr marschieren die deutschen Truppen in die Länder ein. Um 4 Uhr morgens werde ich durch Fliegeralarme geweckt.» Und «Radiomeldung um 13.30 Uhr. Die ganze Schweizer Armee wird auf Samstag, den 11.V. 9 Uhr mobilisiert. Bundespräsident Pilet-Golaz hält eine Ansprache.»

Einen Tag später schreiben die Zeitungen im Fricktal: «Die Reichsregierung hat den deutschen Truppen Befehl erteilt, die Neutralität Belgiens und Hollands mit allen militärischen Machtmitteln des Reiches sicherzustellen. Dieser Befehl bezieht sich auch auf Luxemburg.» Etwas weiter unten im Artikel liest man in der Volksstimme dazu: «Die deutsche Reichsregierung hat einmal mehr den Frieden gegenüber neutralen Kleinstaaten, von denen ihr keine Gefahr droht und denen sie die Respektierung wiederholt und feierlich garantiert hat, nach dem Grundsatz recht ist, was uns nützt gebrochen. Die Begründung Ribbentrops macht dieses brutale Unrecht höchstens noch schlimmer...» und «Wir Schweizer stehen noch ausserhalb der Katastrophe. Niemand weiss, wie lange…» Ein paar Zeilen später: «… Wir wissen nun, woran die kleinen Staaten und wir mit ihnen sind.» Es folgt in der vierten Spalte: «Aufgebot der ganzen Armee».

Auf der nächsten Seite zeigt sich, dass der Krieg auch in der Schweiz angekommen ist: «Fremde Flieger über der Schweiz – Bombenabwurf – fremde Flugzeuge überflogen auch mehrfach heute Morgen unser neutrales Gebiet […] Bei Courrendlin warf ein fremdes Flugzeug Bomben ab […] Nach neusten Informationen war das Ziel der fliegerischen Aktion von heute Morgen und Nacht das französische Eisenbahnnetz.»

Was in den Tagen niemand wusste, war, dass der Angriff auf die neutralen Benelux-Staaten (Fall Gelb) den Aufmarsch gegen Frankreich beinhaltete (Fall Rot). Via die Ardennen, eine waldreiche Hügellandschaft, welche für Panzerfahrzeuge als unpassierbar galt und deshalb schwach besetzt war, erreichten die Panzertruppen von General Guderian bei Sedan französischen Boden. Am 18. Mai wird die Ardennenoffensive zum ersten Mal in der Rheinfelder Zeitung erwähnt: «Von grösster Entscheidung sind jedoch nunmehr die Kämpfe im Ardennengebiet. Sedan, das bekanntlich vor der Maginot-Linie liegt und das vor zwei Tagen völlig evakuiert wurde, befindet sich in deutscher Hand...»

Innerhalb eines Monats wurde Frankreich, durch diese bewaldeten Ardennen und Belgien im Norden überrannt. Die östlichsten Panzerverbände drangen bis zu 50 km in Frankreich ein und schwenkten danach auf französischem Gebiet zum Atlantik ab. Drei Wochen später erreichte die Wehrmacht Dünkirchen. Die Volksstimme berichtet: «Trotz- dem noch um Dünkirchen und in anderen Teilabschnitten der flandrischen Front weitergekämpft wird, kann dieser Abschnitt des Krieges als abgeschlossen beurteilt werden. Wir stehen vor einem neuen deutschen Sieg.» Dank eines strategischen Zögerns Hitlers konnte die eingekesselte englische Armee und Teile der französischen in allerletzter Minute nach England übersetzen. Am 6. Juni berichtet die Volksstimme: «Die Evakuierung beendigt. [] Die Einschiffung der Truppen, die sich auf Dünkirchen zurückgezogen hatten, ging am Dienstag entsprechend den aufgestellten Plänen zu Ende […] Die letzten Einschiffungen erfolgten unter dem Feuer deutscher Maschinengewehre.» Die Evakuierung lief unter dem Namen «Operation Dynamo» und rettete etwa 330 000 Soldaten.

Die Operation Dynamo wurde später mehrmals verfilmt, zwei dieser Filme können auch in der Stadtbibliothek Rheinfelden ausgeliehen werden.

Am 6. Juni hatten die Nationalsozialisten die Küstenlinie von Norwegen bis Calais unter ihrer Kontrolle. Im gleichen Tempo änderte sich nun die Stossrichtung gegen Paris und weiter in den Südosten Frankreichs. Schon in der Ausgabe vom 6. Juni findet sich die Meldung: «Fliegerangriff auf Paris. Über 1000 Bomben auf Paris. Es gibt 45 Tote, darunter 8 kleine Schulkinder. Es handelt sich um einen Bombentyp, der einen eigentümlichen, sirenenartigen Lärm macht.»

Am 10. Juni erklärt der Stadtpräsident von Paris die Stadt als offen. Es finden also keine Verteidigungskämpfe mehr statt. Dennoch wird die Stadt weiter bombardiert. Der «Fricktaler» berichtet am 12. Juni: «Grauen um Paris. Tag und Nacht sind die Deutschen daran, Strassen, Eisenbahnlinien und Bahnhöfe zu bombardieren. Und sie scheinen sich um die riesigen Verluste nicht zu kümmern, die ihr Vormarsch erfordert.» Zwei Millionen Pariser sind auf der Flucht gegen Süden.

Gleichentags erklärt Italien unter Mussolini den Engländern und Franzosen den Krieg und die Volkstimme aus dem Fricktal folgert: «Damit ist im Grunde der Weltkrieg eröffnet.» Norwegen kapituliert. Am 17. Juni dann die Meldung: «Paris wurde am Freitag kampflos besetzt und durchschritten. Über dem Schloss von Versailles, in dem 1871 deutsches Schicksal gestaltet und 1919 deutsche Schmach besiegelt wurde, weht die Reichstagsflagge.»

Der Flüchtlingsstrom beginnt
Am 20. Juni verzeichnet die Volksstimme: «Alle französischen Städte werden als offen erklärt» aber auch: «Bis jetzt sind 3000 zivile Flüchtlinge in den Grenzorten eingetroffen, die von der Armee in Obhut genommen und verpflegt werden. [...] Wie man hört, haben auch französische Soldaten unsere Grenze überschritten, wobei sie ordnungsgemäss entwaffnet wurden.» Am 22. Juni berichtet die Zeitung: «Hitler überreicht die Waffenstillstandsbedingungen. Im Walde von Compiegne, 21. Juni…» Ein paar Zeilen weiter aber: «Waffenstillstand bedeutet noch nicht Frieden.»

An demselben Ort und indemselben Eisenbahnwagen wurde 1919 der Waffenstillstand vom 1. Weltkrieg unterzeichnet. Die Deutschen galten als die Verlierer. Es war für Hitler eine grosse Genugtuung, das Waffenstillstandsabkommen mit Frankreich, diesmal als Sieger, übergeben zu können.

Hitlers Panzer, unter General Guderian, erreichten am 24. Juni die Schweizer Grenze. Frankreich war zur Hälfte besetzt, der südliche Teil bekam eine neue Regierung unter Marschall Petain. Man nannte sie Vichy-Regierung. Die Atlantikküste, von der spanischen Grenze bis Norwegen war von Deutschland besetzt. Es begann der Aufbau des Atlantikwalls, welcher erst im Juni 1942, am sogenannten D-Day, geknackt wurde. Wie oben im Text schon erwähnt, erreichten in diesen Tagen viele französische und polnische Soldaten die Schweizer Grenze.

Die Slawen galten im nationalsozialistischen Denken als minderwertige Rasse. Die polnischen Soldaten, welche sich über die Ostsee nach dem befreundeten Frankreich absetzen konnten, hatten die Gräueltaten der Deutschen in furchtbarer Erinnerung, und so verwundert es nicht, dass sie und auch die Franzosen sich vor einem gleichen Vorgehen der Deutschen ihnen gegenüber fürchteten. Was die polnischen Soldaten bei einer Ergreifung erwarten würde, war allen klar.

Die Volksstimme titelte am 22. Juni 1940: «Die Flüchtlinge kommen. Ein Stimmungsbild von der Juragrenze.» Darin, nach vier Spalten Text: «Die Zahl der am Mittwoch und Donnerstagvormittag durch unsere Ortschaften gezogenen Flüchtlinge wird auf 10 000 geschätzt und ihr Zustrom hält noch an.» Es folgt ein Artikel mit dem Titel: «Internierung und Entwaffnung von bisher 40 000 Mann.» Bei St. Ursanne sind es ca. 28 000 Mann, wovon 16 000 Polen und 12 000 Franzosen, mit 7800 Pferden. «Alle diese Truppen wurden entwaffnet und nach dem Innern abtransportiert. Diesen Truppen folgten mehr als 600 Panzerautos und Militärcamions.» In Genf, wird berichtet, übergibt eine ganze Garnison des Forts ‹De Rouffes› ihre Waffen, nachdem in der Nacht zuvor ihr Kommandant persönlich am Grenzposten um den Übertritt ersucht hat.

Am 26. Juni befand die Schweizer Regierung, dass die aktuelle Lage wieder etwas entspannter sei und befahl die partielle Demobilmachung. Es kehrte an der Grenze, wo ich gerade diese Zeilen schreibe, etwas Ruhe ein, zumindest bis zum 22. November 1944. Doch darüber berichten wir in vier Jahren.


Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Andreas Rohner, Autor des hier publizierten Sonder-Beitrages ist Leiter des Projektes «Kriegsnachrichten». Er wohnt in Rheinfelden. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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