«Drôle de guerre» nach der Kriegserklärung

  15.01.2020 Fricktal

Projekt Kriegsnachrichten blickt zurück auf den 2. Weltkrieg (3. September 1939 – 9. Mai 1940)

Mit «Drôle de guerre» wird in der ersten Phase des Zweiten Weltkrieges die Situation an der Westfront zwischen Deutschland und Frankreich umschrieben. Dieser Zustand beginnt mit der Kriegserklärung Frankreichs und Englands an Deutschland am 3. September 1939 und ändert sich schlagartig mit Beginn des Westfeldzuges am 10. Mai 1940 (Einmarsch in Belgien, Holland und Luxemburg, gefolgt von der Eroberung Frankreichs).

Was soll an einer Front, an einem Krieg denn ‹komisch oder seltsam› sein? In der deutschen Geschichtsschreibung wird dieser Zustand vielleicht treffender mit ‹Sitzkrieg› umschrieben; im Gegensatz zu einem (schnellen) Blitzkrieg, ist ein Sitzkrieg eher eine Operation, die nie startet. Und genau dieser Zustand herrscht an der Westfront bis Mai 1940. Zwar haben sich beide Gegner gegenseitig den Krieg erklärt, aber während rund 9 Monaten keine grossen Operationen unternommen. Beide Seiten beschränken sich darauf, bei lokalen geringfügigen Grenzverletzungen mit ebenfalls geringfügigen Gegenmassnahmen zu antworten. Im Führerbefehl Adolf Hitlers vom 31.8.1939 wird klar festgehalten, dass die politische Verantwortung für die Eröffnung von Feindseligkeiten den Franzosen und Briten zugeschoben werden soll.

Im Zeitfenster Januar bis Mai 1940 wird die Situation an der Westfront in der Fricktaler Volksstimme in Nr. 7: 18. 1. 1940 treffend beschrieben: Im Westen nichts Neues – Die lakonischen Berichte aus beiden Lagern ... melden seit Monaten Spähtruppentätigkeit oder dann höchstens Wettermeldungen. Die Milionenheere liegen sich innerhalb der Maginotlinie und des Siegfriedlinie [Westwall] gegenüber. Der Romantitel von E. M. Remarque (1929) wird bis Mai 1940 noch mehrmals zitiert.

Unter ‹Millionenheere› sind immerhin 18 bzw. 41 deutsche Divisionen zu verstehen, die seit November 1939 an der holländischen und belgischen Grenze stehen. Deutschland beschwichtigt seine Nachbarn, dass diese jedoch nur als Reserve der Westwalltruppen gelten (VdF Nr. 9, 23.1.1940).

In Nr. 11 der Volksstimme vom 27.1.1940 wird etwas ausführlicher gemeldet: Feindliches Artilleriestörungsfeuer, das im allgemeinen schwach, .... Französischer Situationsbericht: Der Mittwoch war einer der ruhigsten Tage, wenn nicht der ruhigste Tag seit Beginn der Feindseligkeiten.

Es passiert nichts…
Das ist also das ‹komische› (drôle) an dieser Situation: Es besteht auf beiden Seiten eine stark befestigte Frontlinie – und es passiert nichts! In Nr. 14 vom 3.2.1940 äussert sich diese Ungewissheit: Stille vor der Sturm – Die Ungewissheit, die die weltpolitische Hochspannung in Europa kennzeichnet, hält nach wie vor an. Von der Westfront wird wochen- ja monatelang nicht Wesentliches gemeldet. Erst war sie im Frost erstarrt, dann soll das Tauwetter sie in einen Morast verwandelt haben. Jedenfalls bekundet nach wie vor niemand Lust zu grösseren und gewagteren Unternehmungen. Aber wird es immer so bleiben? Namentlich dann, wenn die roten Divisionen weiterhin am Damm des heldenhaften finnischen Widerstandes zerschellen?

Mit den ‹roten Divisionen› und dem ‹finnischen Widerstand› ist der mörderische Winterkrieg zwischen Sowjetrussen und Finnland gemeint, der am 13.3.1940 enden wird.

In Nr. 26 vom 2. 3. 1940 findet sich eine Zusammenfassung der Ereignisse der ersten sechs Monate seit dem 1.9.1939. Nachdem in Polen die Situation unter Kontrolle ist, ziehen die Deutschen im Oktober 1939 die gesamten verfügbaren Kräfte an der Westfront zusammen und stationieren sie entlang der luxemburgischen, belgischen und holländischen Grenze und mit schwächeren Kräften an der Rheinfront von Karlsruhe bis Basel. Den rund 150 Kampfdivisionen der Wehrmacht stehen auf französischer Seite ein rund vier Millionen Soldaten umfassendes Heer und an der luxemburgischen Grenze das rund 250 000 Mann zählende Expeditionskorps der Briten.

Allgemein ist in Frankreich der Glaube an die Fortdauer der passiven Strategie der beiden Gegner an der Westfront bis in den zweiten Kriegswinter [1940/41] hinein stark im Schwinden gegriffen ... Dem wird entgegen gehalten, dass für Deutschland nur eine relativ kurze Frontlinie entstünde, wenn die Neutralität von Luxemburg, Belgien, Holland und der Schweiz von beiden Seiten respektiert würde und man hofft, dass die Deutschen deshalb an der bisherigen Zermürbungstaktik nach der Devise «wer kann es länger aushalten?» festhalten würden.

Im weiteren Verlauf dieser Übersicht skizziert der Kommentator die Möglichkeiten von Konf likten in anderen Regionen Europas und des Mittelmeerraumes, die Einfluss nehmen könnten auf den Entscheid aus der Zermürbungstaktik in einen offenen Kampf überzugehen. Unter der Rubrik «Fricktal» in derselben Ausgabe vom 2.3.1940 wird berichtet, dass deutsche Truppen längs der Schweizergrenze am Hochrhein Stellungen beziehen. Die Art des Kantonnementsbezuges, so die Unterbringung der Truppen bei Privaten usw. deutet indessen darauf hin, dass es sich um Mannschaften handelt, die dort lediglich Ruhestellungen beziehen. Die Leute sprechen österreichischen und bayrischen Dialekt. Diesem Bericht musste in der Ausgabe Nr. 28 vom 7.3.1940 der Kommentar «Ruhig Blut!» nachgeschoben werden, dass es sich dabei um die übliche Kriegspropaganda handelt.

Lautsprecher unter Feuer
Im engeren Sinne von «drôle» kam es entlang der Fronten auch zu Grenzüberschreitungen der eher ‹komischen› Art. In Nr. 12 vom 30. 1.1940 wird von französischen Lautsprecherpropaganda berichtet. Die Lautsprecher verstummten als sie nach vorheriger Warnung, sofort unter wirksames [deutsches] Feuer genommen wurden. Das ist offenbar gängige Praxis, denn noch in Nr. 34 vom 21.3.1940 wird auf diese Art der Propaganda hingewiesen: Von der Vermehrung der Feuertätigkeit trugen auch die Propagandatafeln bei, mit denen die Deutschen die französische Soldaten von der Allianz mit England abspenstig zu machen suchten. Es entspann sich ein lebhaftes Scheibenschiessen auf diese Tafeln – Scheibenschiessen wie am Jahrmarkt!

Trotz der Tragik der Ereignisse sei hier mit einem Schmunzeln auf zwei Notizen in der Berichterstattung der Volksstimme hingewiesen. Die Finnen bieten den desertierenden Russen gute Preise in Dollar oder Rubel für das Überlassen von Waffen, Munition und Geräte – bis zu Panzer und Flugzeugen wird alles ‹gekauft› (VdF Nr. 3, 9.1.1940). Die Russen antworten, die finnischen Soldaten [seien] eingeladen, an die russischen Linien heranzukommen, wo sie nette Mädchen finden würden. (VdF Nr. 26, 2.3.1940).

Offenbar sind die Soldaten an der Westfront so sehr ins Scheibenschiessen vertieft, dass sie das Landen einen britischen Flugzeugs im Saargebiet nicht bemerken. Deutsche Bauern machen die Piloten auf den Irrtum aufmerksam. Das britische Flugzeug kann unerkannt durch die deutsche Luftabwehr wieder abheben und nach Frankreich wechseln (VdF Nr. 34, 21.3.1940).

Die Betrachtung des Zeitfensters vom ersten Quartal 1940 schliessen wir mit dem Bericht unter der Rubrik ‹Krieg› in Nr. 37 vom 30.3.1940: Französischer Heeresbericht: ruhige Nacht auf der ganzen Front. Das deutsche Oberkommando teilt mit: Im Westen nichts Neues.

Das änderte sich auf brutale Weise etwa 5 Wochen später: am 10. Mai 1940 überschritt die deutsche Wehrmacht die Grenzen von Holland, Belgien und Luxemburg – aus dem ‹Sitzkrieg› ist ganz überraschend ein ‹Blitzkrieg› geworden.

Heftige Luftkämpfe
Eines müssen wir uns allerdings bewusst sein, dieser Zustand des ‹komischen, seltsamen Krieges› bezieht sich nur auf die terrestrischen Operationen von Infanterie und Artillerie zwischen den beiden Frontlinien von Maginot und Siegfried. Die Flieger aller Beteiligten (und auch der Neutralen) lieferten sich dagegen heftige und blutige Kämpfe am europäischen Himmel. In der Volksstimme sind unter der Rubrik ‚Krieg’ praktisch in jeder Nummer im Abschnitt ‹Luftkrieg› die vermeldeten Abschüsse von Kampfflugzeugen verzeichnet. Während sich der Luftkrieg auf Europa beschränkt, wird der Seekrieg mit aller Härte in alle Weltmeere getragen. Auch dazu gibt es in der Volksstimme jeweils einen eigenen Abschnitt mit Berichten, wer welches Schiff versenkte. Tragischerweise sind es im Marinekrieg vor allem zivile Opfer. Denn jedes Handelsschiff kann potenziell kriegswichtige Güter für den jeweiligen Gegner geladen haben (und gilt daher nicht mehr als ‹neutral›). Ohne Kontrolle wird deshalb einfach alles, was vor die Torpedorohre läuft, versenkt.

Nach der Kriegserklärung von Frankreich und England an Deutschland am 3.9.1939 erwartet die Bevölkerung Europas einen gigantischen Krieg mit noch gigantischerem Massensterben und unermesslichen Zerstörungen. Und es geschieht nichts! Beide Seiten zögern mit einem Angriff. Die französische Regierung setzt auf das ‹Aussitzen› der drohenden Situation und versucht die angriffigen Stimmen der Militärs unter Deckel zu halten. In dieser Zeit prägt der Schriftsteller Roland Dorgelès den Begriff ‹drôle de guerre› um damit die Ungewissheit der Situation zum Ausdruck zu bringen. Aber nicht nur die Franzosen sind überrascht und verunsichert, auch für die beteiligten Briten ist es eine merkwürdige Situation, monatelang ‹Gewehr bei Fuss› zu warten, was die Wehrmacht machen wird. Im Gegensatz zu den Franzosen ist dieser Zustand für die Briten nicht ‹komisch (drôle)› sondern schlicht ‹langweilig›; der ‹bore war› ist daraus geworden.

Die Militärführung in der Schweiz hat dagegen eine etwas andere Sicht auf diese Situation. Die Ungewissheit der möglichen militärischen Situation wird ausgenutzt zum Aufbau einer eigenen Verteidigungslinie entlang den Grenzen und im Hinterland. 1939 und 1940 wird gebaut, was Material und Menschenkraft hergeben.

In Nr. 1 vom 3. 1. 1940 wird aus der Botschaft des Bundesrates zum Neujahrstag berichtet: Glücklicherweise stehe unser Land heute nicht in unmittelbarer Gefahr, aber die Armee sei zum höchsten Einsatz bereit. Gegenwärtig sei ein breiter Verteidigungsgürtel rund um das Land gelegt. Wer immer auch Angreifer sein möge, er müsse sich auf energischen Widerstand gefasst machen – Schlussparole: Wir sind bereit.
In Nr. 2 vom 6.1.1940 bemerkt der Kommentator der Volksstimme Fricktal, dass die Befestigungsbemühungen der Schweizer Armee auch deutlich gezeigt werden sollen, damit kann es für einen möglichen Angreifer sehr wohl entscheidend sein, zu wissen, dass die Schüsse, die ihm ... entgegenhallen würden, keineswegs aus widerwillig gegen ihn gerichteten Gewehrläufen kämen, sondern die ganze Kraft der Volksstimmung hinter sich hätten.» Und um das noch zu bekräftigen wird in derselben Ausgabe auf Seite 6 unter dem Titel Besuch an der ‹Letzi› ausführlich über den Besuch einer rückwärtigen Festung berichtet: Ja, es sind viele Letzinen, die sich durch Talgründe und über Bergrücken ziehen, nebeneinander, hintereinander, zwei, drei Glieder tief; sie sind in den wichtigsten Gebieten fertig gebaut, ... Tausende von Soldaten graben im Boden ... und angesichts dieser furchtbaren Hindernisse, verstärkt durch die Bodengestalt ... wird es sich jeder Stratege, der unser Land zum Durchmarsch benutzen möchte, zehnfach überlegen, bevor er etwas unternimmt ...

Das ist die Haltung der Eidgenossen in dieser Zeit der Ungewissheit – des «drôle de guerre.»


Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Fricktal», der «Neuen Rheinfelder Zeitung» und «Der Frickthaler» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet.

Thomas Bitterli, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Historiker und Archäologe, sowie Fachberater armasuise Immobilien Kompetenzzentrum Denkmalschutz, Basel. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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