Weniger Polizeieinsätze in der Psychiatrie
05.01.2021 FricktalTom Deiss blickt von Berufs wegen tief in die Gesellschaft Von November 2019 bis August 2020 leitete der Fricker Tom Deiss das neugeschaffene Deeskalationsmanagement bei den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG) auf dem Areal Königsfelden in Windisch. Seit September trägt er wieder die Uniform der Kantonspolizei, diesmal auf dem Posten in Rheinfelden. Im Gespräch mit der NFZ blickt er zurück auf die Zeit bei den Psychiatrischen Diensten.
Simone Rufli
Die PDAG waren im Herbst 2019 schweizweit die erste Psychiatrie, die den Versuch startete, mit speziell ausgebildeten, eigenen Mitarbeitern Bedrohungssituationen im Klinikalltag zu entschärfen und so die Zahl der Polizeieinsätze auf dem Klinikgelände zu reduzieren. Entsprechend gross war das Interesse auch von anderen Kliniken. Mittlerweile ist das Pilotprojekt beendet und das Deeskalationsmanagement bei den Psychiatrischen Diensten Aargau fester Bestandteil.
NFZ: Herr Deiss, wozu braucht es ein Deeskalationsmanagement?
Tom Deiss: In der Psychiatrie kommt es immer wieder vor, dass Patienten mit einer Behandlung nicht einverstanden sind und gegen ihren Willen mediziert werden müssen. Das stellt das Pflegepersonal teilweise vor grosse Herausforderungen, vor allem dann, wenn die Patienten gegenüber dem Pflegepersonal aggressiv und ausfällig werden. Das Pflegepersonal ist nur bedingt dafür ausgebildet, mit Patienten in derartigen Ausnahmezuständen und daraus entstehenden Bedrohungssituationen umzugehen. Das ist dann jeweils der Moment, wo man die Polizei zugezogen hat.
Wurde die Polizei denn oft gerufen?
Es hat ein Ausmass angenommen, das nicht mehr in einem gesunden Verhältnis gestanden hat.
Um dem entgegenzuwirken, beschritt man einen neuen Weg, indem man die Fachleute zu sich in die Klinik holte und anstellte.
Genau. Der Deeskalationsmanager sollte eine zwischengeschaltete Stelle sein, die beigezogen wird, bevor die Polizei aufgeboten wird. Ich habe im November 2019 angefangen, ein weiterer Mitarbeiter im Dezember. Die Pflege hat bei einem schwierigen Fall nun uns beigezogen. Das hat gut funktioniert. In der Zeit, in der ich dort war, konnten wir die Polizeieinsätze sehr stark reduzieren.
Sie haben im Mai gekündet. Da wurde die Stelle neu ausgeschrieben und speziell gerichtet an Grenzwächter und Polizisten. Was befähigt diese Berufsgruppe für diese Arbeit?
Einerseits ist der neutrale Blickwinkel in meinen Augen sehr wichtig. Andererseits ist die Ausbildung entscheidend, das Wissen und die Erfahrung im Umgang mit einer Person, die auf mich losgeht, die mir etwas antun will. Auf solche Situationen werden die Mitarbeiter von Polizei und Grenzwacht im Rahmen ihrer Ausbildung vorbereitet und geschult.
Warum kann die Pflege diese Aufgabe nicht selbst übernehmen?
Pf legende sind sehr nah an den Patienten. Für sie ist es um ein Vielfaches schwieriger, aus ihren täglich wiederkehrenden Abläufen heraus zu handeln, während das Deeskalationsmanagement von «aussen» dazukommen und nachher wieder weggehen kann.
«Das Gegenüber nicht als Problem ansehen»
Und die Vielschichtigkeit der Gesellschaft akzeptieren
Die Psychiatrie ist definitiv kein Gefängnis und es sei entscheidend, wie man auf jemanden zugehe, sagt Kantonspolizist Tom Deiss im Gespräch mit der NFZ. Von November 2019 bis August 2020 leitete der Fricker das neugeschaffene Deeskalationsmanagement bei den Psychiatrischen Diensten Aargau (PDAG).
Simone Rufli
NFZ: Wie sah ein typischer Tag bei den Psychiatrischen Diensten denn aus?
Tom Deiss: Wir haben von Montag bis Freitag tagsüber gearbeitet. Das ist die Zeit, wo am meisten Medikationen und Behandlungen verordnet und durchgeführt werden. Wir haben bei der Medikamenten-Abgabe unterstützt, auch bei ärztlich angeordneten Zwangsmedikationen. Spannend waren auch die Begegnungen anlässlich der Begleitung eines therapeutischen Spaziergangs draussen in einem ungezwungeneren Rahmen, wo man wieder einen Zugang zum Patienten finden kann, wo es aber auch zu Abbruch und Rückkehr auf die Station gekommen ist.
Gab es viele kritische Situationen?
Wenn man konzentriert arbeitet, lassen sich kritische Situationen in der Regel vermeiden. Aber auch ich habe einmal einen Schlag mit einer Pet-Flasche an den Kopf bekommen, weil ich zu wenig aufmerksam war. Häufiger waren die Aggressionen allerdings verbaler Natur.
Welche Mittel zur Deeskalation gibt es denn?
Das Wichtigste ist, Ruhe und Sicherheit auszustrahlen. Ablenkung kann helfen, es kann aber auch sein, dass bewusst eingesetzte und massvolle Konfrontation der richtige Weg ist. Konfrontiert man Patienten mit ihrem Verhalten, indem man abgeschwächt dasselbe tut, werden manche sich erst bewusst, was sie tun.
In Königsfelden gibt es die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch die Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie, ganz junge bis ganz alte Patienten. Kommen da auch unterschiedliche Vorgehensweisen zum Zug?
Kinder in Ausnahmezuständen mussten wir ab und zu sanft, aber bestimmt festhalten, damit das Kind nicht mehr um sich schlagen konnte. Das ist dann aber in erster Linie ein Halt geben. Das kann aber auch bei älteren Patienten helfen. Oft reichte es, einen Patienten beispielsweise an der Hand zu fassen und die Situation hat sich bereits entschärft.
Was man nicht unbedingt erwarten würde…
Ich versuche mit einem Beispiel zu veranschaulichen, was da oft abläuft: Wir sitzen in einem Zug im Bahnhof, daneben steht ein zweiter Zug. Ein Zug setzt sich in Bewegung. Viele kennen das Gefühl der Unsicherheit, welcher Zug nun fährt und welcher noch steht. Viele Patienten sind in einem solchen Dilemma. Fasst man einen Patienten dann an, spürt er, dass er geführt wird und er wird aus der Phase der Unsicherheit herausgeholt. Für mich ein bildlich sehr nachvollziehbarer Vergleich, den mir jemand zu Beginn meiner Tätigkeit in Königsfelden mit auf den Weg gegeben hat.
Gibt es in der Psychiatrie denn jetzt Bestrebungen, das Pflegepersonal zu schulen?
Ja, die gibt es schon seit längerer Zeit. Das Deeskalationsmanagement ist einfach eine zusätzliche Unterstützung, es macht vor, macht mit und dann steht es noch dahinter und beobachtet, um bei Bedarf unterstützend einzugreifen. Ein sehr positiver Nebeneffekt ist auch, dass die Polizisten die Möglichkeit erhalten, für eine Woche ein Praktikum in der Psychiatrie zu absolvieren. Alle sagen, dass dies etwas vom Besten ist, um den Horizont zu erweitern. Sie sind in ihrem Alltag immer wieder mit Menschen mit psychischen Erkrankungen konfrontiert. Für die Psychiatrie ist das somit auch ein Gewinn.
Es gibt aber immer noch Situationen, wo die Psychiatrie die Polizei rufen muss.
Ja, aber viel weniger. Die Wirkung der Uniform darf man allerdings nicht unterschätzen. Ich erinnere mich an sehr eindrückliche Situationen, wo wir mit Deeskalationsmassnahmen nichts mehr erreichen konnten. In der Folge wurde die Polizei gerufen, welche nur durch ihre Präsenz dazu beigetragen hat, dass sich der Patient zu beruhigen vermochte. Dies auf der Seite der Psychiatrie mitzuerleben, war für mich schon sehr eindrücklich.
Deeskalation ist bei der Polizeiarbeit sicher genauso wichtig. Wie sieht das dort aus?
Das hat sehr viel mit Lebens- und Berufserfahrung zu tun und wie man auf jemanden zugeht. Wie man den Menschen annimmt und dass man ihm mit Respekt begegnet. Es geht auch darum zu akzeptieren, dass man etwas falsch machen kann und dass es Umstände gibt, die zu einer Tat führen. Wichtig ist, dass man als Polizist nicht zum Voraus verurteilt. Wenn man sich an diese Regeln hält, trägt man viel dazu bei, dass Situationen nicht eskalieren. In meinen 18 Jahren bei der Polizei – mit diesen zehn Monaten Unterbruch – kann ich an einer Hand abzählen, wann ich jemanden körperlich anfassen musste.
Deeskalation beginnt demnach bei der persönlichen Einstellung.
Man sollte das Gegenüber nicht als Problem ansehen. Unsere Gesellschaft ist nun mal sehr vielschichtig. Als Polizist bekommt man tiefe Einblicke; das ist nicht nur schön, aber auch nicht nur traurig.
Hat sich die Situation durch Corona verschärft?
Die Patienten spürten, dass etwas da ist, was nicht gut ist. Sichtbar wurde das für sie ja auch. Die Pflege trug immer Masken und Handschuhe und achtete noch strikter auf die Hygiene.
Bei der Polizei ist es etwas anders. Das Problem im Moment ist, dass das Maskentragen Anonymität gibt. Es ist ein anderes Reden mit jemandem, wenn man nur gerade die Augen sieht. Das Zwischenmenschliche leidet auch bei der Polizeiarbeit.
Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt. Man sieht auch bei Delikten, insbesondere bei Einbrüchen, dass die Leute regulär vermummt unterwegs sind. Zahlenmässig mehr Probleme gibt es zwar nicht, aber es ist ein gewisser Widerstand gegen die Staatsgewalt spürbar.
Hat sich in Ihrer Polizei-Arbeit etwas verändert, seit dem Abstecher in die Psychiatrie?
Es war eine sehr eindrückliche, sehr positive Erfahrung, aber nein, verändert hat sich nichts. Eher wurde das Verständnis für psychische Ausnahmesituationen noch gefördert. Ich habe in einen Bereich hineinsehen können, um den viele Leute einen grossen Bogen machen und froh sind, dass sie keinen Kontakt haben müssen. Hilfreich ist auch, dass ich jetzt direkte Ansprechpersonen habe in der Psychiatrie.
Warum sind Sie zur Polizei zurück?
Weil mir die Polizeiarbeit gefehlt hat und weil ich nicht alles in meinem gewohnten Tempo so umsetzen konnte, was mir an zusätzlichen Ideen noch vorschwebte (lacht). Das wusste ich aber natürlich von Anfang an, denn bei diesem Pilotprojekt waren die personellen Ressourcen für zusätzliche Wünsche einfach noch nicht gegeben.
Erst jetzt merke ich, dass auch die Arbeitszeiten für mich ein wichtiger Punkt waren. Ich bin froh, habe ich bei der Polizei unregelmässige Arbeitszeiten. Das gibt mir eine andere Freiheit, andere Möglichkeiten.
Und trotzdem gibt es viele Parallelen mit der Polizeiarbeit.
Ja, auch in der Psychiatrie ist vieles nicht planbar. Ich habe das Unerwartete extrem gern, aber das ist nicht jedem gegeben. Auch das Abstandgewinnen-können ist nicht jedem gleich gegeben.
Bei der Polizei trägt man eine Uniform, und wenn man die in die Garderobe hängt, hat man bereits die erste Distanz zur Arbeit geschaffen. Auch in der Psychiatrie trugen wir andere Kleidung, aber das war nicht gleich stark in der Wirkung wie eine Polizeiuniform.
Und Menschen tragen Probleme mit sich herum auch ausserhalb von Kliniken.
Das ist so. Man trifft täglich auf die unterschiedlichsten Leute auch ausserhalb der Psychiatrie. Als Polizist trifft man den psychisch kranken Menschen, den unter Drogeneinfluss stehenden, den im Alkoholrausch. In der Psychiatrischen Klinik trifft man diese Menschen einfach in konzentrierter Form an.
Hat sich Ihr Blick auf die Psychiatrie verändert?
Es war eine spannende und eindrücklich Zeit mit all den verschiedenen Patienten und Krankheitsbildern. Ich traf auf Menschen, die ich von ausserhalb kannte und auf Leute aus allen Gesellschaftsschichten. Psychische Krankheiten gehören zu unserem Leben und doch empfinden wir es immer noch als Makel, wenn psychische Probleme auftreten.