Am Ende eines langen Spaziergangs angelangt
28.02.2021 FricktalNach bald vier Jahren endet «unterwägs dehei»
Von Kaisten bis Elfingen sind wir spaziert. Nicht auf direktem Weg, sondern quer durch 41 Fricktaler Dörfer. Immer haben uns dabei junge Menschen begleitet, die uns die Ortschaften durch ihre Augen neu entdecken liessen. Der letzte Spaziergang führt heute durch das vor zwei Wochen noch tief verschneite Elfingen.
Simone Rufli
Wie erleben junge Menschen das Fricktal? Was schätzen sie an ihrem Wohnort? Was würden sie gerne ändern? Gibt es Orte, die sie mit besonderen Erlebnissen verbinden und wo werden sie in ein paar Jahren wohnen? Diese Fragen standen am Anfang unserer Serie «unterwägs dehei». Uns dienten sie als roter Faden, unseren jugendlichen Begleiterinnen und Begleitern gaben sie, noch bevor wir sie trafen, eine Vorstellung von dem, was auf sie zukommen würde.
Im April 2017 war es dann soweit. Kaisten war das erste Dorf, das wir zusammen mit Jugendlichen unter die Füsse nahmen. Heute, fast vier Jahre später, findet die Serie mit dem Rundgang durch Elfingen ihren Abschluss.
41 Mal haben wir uns von engagierten jungen Menschen durch ihr Dorf führen lassen. Sie haben mit uns Wind und Wetter getrotzt, Kälte erduldet und Hitze hingenommen. Sie haben erzählt und gelacht und auch zum Nachdenken angeregt. Und immer haben wir viel aus ihren Dörfern mitnehmen dürfen. Neues, Unbekanntes, Verborgenes. So einzigartig jeder Spaziergang war, so einheitlich ist die Feststellung: Wo wir auch hinkamen, wir entdeckten neue Facetten in den Dörfern, über die wir auch in anderem Zusammenhang regelmässig berichten und die wir doch wieder anders erlebten. Es waren nicht nur landschaftlich wunderschöne Rundgänge, es waren Begegnungen mit jungen Frauen und Männern, die in Erinnerung bleiben. Vom ersten Rundgang durch Kaisten im April 2017 bis zum heutigen letzten Spaziergang durch das verschneite Elfingen war es an jedem Monatsende eine Hommage an ein Dorf. Jetzt ist «unterwägs dehei» am Ende des Spazierwegs angekommen. Ein Ende bietet aber immer auch die Chance für einen Neuanfang. Und so soll es auch in diesem Fall sein: Die NFZ wird weiter im Fricktal unterwegs sein. Eine neue Serie ist in Vorbereitung. Mehr sei an dieser Stelle noch nicht verraten. Denn jetzt geht es zuerst auf den letzten Spaziergang.
Klein aber fein
Zwei Jahre lang hat Jonas Ackermann in Brugg gewohnt, bevor er im letzten Sommer nach Elfingen zurückgekehrt ist. In das Dorf, in dem er aufgewachsen ist und an dem er alles schätzt: die Menschen, die Gepflogenheiten und die wunderschöne Landschaft. Auf dem letzten Spaziergang der Serie «unterwägs dehei» führt der 21-Jährige die NFZ durch sein Dorf. Und während draussen gerade der Frühling seine Fühler ausstreckt, kehren wir mit Jonas Ackermann in den eisigkalten Winter zurück, der erst wenige Tage hinter uns liegt.
Unterwegs im Dorf mit dem Fussgängerstreifen
Zum Abschied ein Winter-Spaziergang durch Elfingen Vom ersten Rundgang durch Kaisten im April 2017 bis zum heutigen letzten Spaziergang durch das verschneite Elfingen hat die NFZ während fast vier Jahren 41 Mal junge Menschen durch ihren Fricktaler Wohnort begleitet. Mit Jonas Ackermann endet die Serie «Unterwägs dehei».
Simone Rufli
Ganz in Weiss und empfindlich kalt, so präsentiert sich Elfingen an diesem späten Nachmittag im Februar. Und noch immer rieselt ganz leise der Schnee. Auf dem Parkplatz gegenüber dem alten Gemeindehaus treffe ich Jonas Ackermann, der mich auf dem letzten NFZ-Spaziergang durch sein Dorf führen wird. Kaum angekommen, beginnt Jonas zu erzählen. Unser Treffpunkt, stellt sich heraus, ist so etwas wie der Lebensmittelpunkt des 21-Jährigen. «Schon mein Grosi hat hier in dieser Wohnung gegenüber dem Gemeindehaus gewohnt. Als Kind war ich oft bei ihr. Jetzt wohne ich in der gleichen Wohnung.» Jonas Ackermann deutet hinauf zum Balkon seiner Wohnung und lacht. «Ein Teil der Gemeindeangelegenheiten konnte mündlich über die Strasse geregelt werden.»
Die Verwaltung ist seit dem 1. Januar 2014 mit Standorten in Bözen und Hornussen als Verwaltung 3plus zusammengelegt. Im alten Gemeindehaus in Elfingen ist heute unter anderem eine Firma einquartiert. Wir spazieren der Hauptstrasse entlang Dorf abwärts. Bei der Bibliothek bleibt Jonas stehen. Ja, Elfingen hat eine Bibliothek. «Nicht gross, aber jedes Mal, wenn ich hier vorbeischaue, finde ich ein Buch, das ich gerne lese», erklärt Jonas und setzt sich für ein Foto auf die Bank neben dem Eingang. Die Bibliothek ist im ehemaligen Bushäuschen untergebracht und richtig einladend. Von der Bibliothek führt uns der Weg vorbei am «Sternen». «Der Italiener, der seit rund einem Jahr darauf wirtet, macht wunderbare Pizzen und Pasta, die kann man jetzt zum Mitnehmen bei ihm bestellen.» Wir kommen zum neuen Buswendeplatz. «Den grossen Wendeplatz haben wir, weil es hiess, bald kämen die Gelenkbusse.» Jonas hält inne, lächelt vielsagend. «Den Wendeplatz haben wir, auf die Gelenkbusse warten wir noch immer. Der Platz ist aber auch gut für gesellige Dorfanlässe wie für den Adventsapéro. Für die 1. August-Feier, wo wir anstatt Rednern meist Comedy-Acts oder Zauberer als Gäste haben, ist er zu klein, die findet jeweils auf dem alten Schulhausplatz statt.» Aus dem Postauto steigt gerade der Fahrer. Jonas winkt ihm zu. «Ein Kollege, der neben dem Studium als Postauto-Chauffeur jobbt.» Wir ziehen weiter. «Wenn man hier abends etwas länger in den Ausgang möchte, empfiehlt es sich schon, Autofahren zu lernen. Mittlerweile fahren die Busse zwar bis 23 Uhr.» Am Dorfbach bleibt Jonas stehen. «War es warm genug, gingen wir als Kinder im Bach baden.» Im Moment schwer vorstellbar. Die Hände sind steif, der Kugelschreiber verweigert bereits ein erstes Mal den Dienst.
Nicht von ungefähr
Interesse an Politik? Die Frage muss ich stellen. Jonas’ Mutter ist im Gemeinderat. «Abstimmen, wählen ja, diskutieren gerne, aber sonst bin ich nicht politisch aktiv.» Dafür kandidiert er gerade für einen Sitz in der regionalen Steuerkommission. Und das kommt nicht von ungefähr. Etwa ein halbes Jahr nach Abschluss der kaufmännischen Lehre auf der Gemeindeverwaltung von Zeihen zog es Jonas auf Anfang 2018 beruflich nach Zürich. Zwei Jahre lang wohnte er in Brugg und arbeitete auf dem Steueramt in Zürich. «Ich bemerkte eine Hand voll Leute, die nicht wirklich viel Freude an der Arbeit hatten.» Da habe er beschlossen, dass es ihm nicht auch so ergehen soll. Er kehrte dem Steueramt den Rücken und startete im August 2020 in eine andere Richtung. Mit dem einjährigen Intensiv-Studium «Passerelle», das er seither an der Kantonsschule in Aarau absolviert, will er sich Zugang zur universitären Ausbildung verschaffen. «Ich möchte an der Uni Zürich Filmwissenschaften studieren und im Nebenfach Medienwissenschaften, das lässt sich gut kombinieren», erzählt der junge Mann, während wir uns vorsichtig tastend, nach Halt suchend auf der gefrorenen Dorfstrasse aufwärts zum «Müllermättli» bewegen. Jonas Ackermann bleibt stehen, schaut sich um. «Als ich klein war, standen hier oben noch fast keine Häuser. Wir konnten hier wunderbar schlitteln.» Damals, erinnert sich Jonas, zählte Elfingen rund 250 Einwohner. Heute sind es 295. «Das Dorf wächst, aber noch kennt man eigentlich jeden und das schätze ich sehr.» Und was meint er zu Böztal? Per 1. Januar 2022 fusioniert Elfingen mit Bözen, Effingen und Hornussen zur neuen Gemeinde Böztal. Wieder lacht mein Begleiter. «Meine Mutter hat als Gemeinderätin am Zusammenschluss mitgearbeitet. Ich denke, das ist eine gute Sache.»
Der Wein des Vermieters
Wir sind oben angekommen, stehend. Der Blick schweift hinunter übers verschneite Dorf und hinüber zu den Reben. «Ich mag den Wein von Brändli am liebsten. Brändli ist mein Vermieter, aber davon abgesehen mag ich den Wein wirklich.» Jonas lacht. Wir konzentrieren uns darauf, unfallfrei die eisglatte Strasse hinunter zur Schule zu kommen.
Ein paar Meter von der Einfahrt zum Schulgelände entfernt bleibt der junge Mann stehen. «Hier in diesem Haus bin ich aufgewachsen. Hier wohnt meine Mutter.» Vor der Haustüre einmal umfallen und der Bub stand vor dem Schulhaus. «Ich fand das toll, einen so kurzen Schulweg. Meistens war ich trotzdem recht früh auf dem Pausenplatz, um zu spielen. Wir hatten Kinder von auswärts bei uns in der Gesamtschule und die kamen mit dem Postauto halt schon früher.» So klein Elfingen ist, Mittagstisch und Betreuung nach der Schule gab es schon. «Zum Glück», meint er, «meine Mutter musste oft arbeiten, da sie alleinerziehend war.»
Den Kindergarten besuchte er in Bözen, die Primarschule in Elfingen, die Oberstufe später in Frick. Heute ist das Schulhaus ein Kunst- und Kulturhaus. Auf Beginn des nächsten Schuljahres zieht die Privatschule «Wirkstadt» ein.
Der Gelb-gestreifte
Von der Schule geht es hinunter zur Hauptstrasse. «Das hier ist unser berühmter Fussgängerstreifen», stellt mir Jonas den Gelb-gestreiften vor. «Er ist der einzige, den wir haben und daher ideal für Wegbeschreibungen.» Das Dorf lädeli ist um diese Zeit geschlossen. «Es ist toll, dass wir das hier noch haben», findet Jonas. «Genauso wie die Coiffeuse, auch das gibt es bei uns.»
Wir biegen in die Schlossstrasse ein, kommen, kaum dass die Steigung beginnt, das erste Mal ins Rutschen. Müssen wir diese steile Strasse wieder hinunter? Jonas schüttelt den Kopf, deutet in die andere Richtung. «Hintenherum ist es etwas flacher.» Erleichtert kann ich mich wieder dem Gespräch zuwenden.
An «Käsers Schloss» mit seinen weitherum bekannten Spirituosen vorbei wandern wir hinauf zum Grillplatz. Dort möchte mir Jonas einen seiner Lieblingsplätze zeigen, mit Blick übers ganze Dorf. Zahllose Sommerabende hat er schon mit Kollegen hier oben bei einem Bier oder zwei zugebracht. «Oben die Sterne, unten das Dorf.» Mehr braucht Jonas nicht zu sagen, es ist klar, was ihm Elfingen bedeutet. «Ja, ich kann mir vorstellen, hier wohnen zu bleiben. Aber natürlich wird das dereinst auch von der familiären Situation abhängen.» Und dann erzählt er von seiner Leidenschaft für den Film, von seiner Freude am Verfassen von Filmkritiken, von der eigenen Homepage neonfilmreviews.com und vom Quidditch. Dem Spiel, das durch den Zauberlehrling Harry Potter bekannt wurde, das spielt Jonas in Zürich. Daneben trainiert er rund 20 Kinder. Die Fairness, der Respekt, das Miteinander der Geschlechter im selben Team – all das gefällt ihm an diesem Sport. «Vielleicht ist das Coronavirus bis im Sommer soweit eingedämmt, dass wir in der zweithöchsten europäischen Liga in Brescia antreten können.» Es wäre sein erstes Turnier sagt Jonas Ackermann bevor er die Treppe hinauf zu seiner Wohnung steigt.