«Der Mensch ist ein Sozialwesen»

  09.01.2022 Fricktal

Mehr Anmeldungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Der Bedarf nach psychotherapeutischer Unterstützung für Kinder und Jugendliche ist aufgrund der Corona-Pandemie in den letzten Monaten deutlich gestiegen. Dies erklärt Dr. Martin Meier, Leiter des Ambulatoriums Fricktal der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der PDAG.

Karin Freiermuth

NFZ: Herr Meier, worunter leiden Kinder und Jugendliche am meisten im Zusammenhang mit der Pandemie?
Martin Meier:
Suizidalität, Ängste oder Probleme im Bereich Schulbesuch und Essverhalten nehmen tendenziell zu. Der Mensch ist ein Sozialwesen; die durch die Pandemie notwendigen sozialen Einschränkungen stellen generell eine Belastung dar. Die Überversorgung via soziale Medien dürfte auch nicht immer hilfreich sein. Das Ausmass der Auswirkungen wird sich wohl erst im Nachhinein sorgfältig beurteilen lassen. Allgemein gehen die Anmeldezahlen hoch.

Welches sind generell die Hauptgründe, warum Kinder und Jugendliche eine psychotherapeutische Behandlung brauchen?
Depressive Erkrankungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, stressbedingte Störungen, ADHS und Verhaltensstörungen. Ich möchte betonen, dass sich durch die Pandemie die Gründe für Abklärungen und Behandlungen nicht massiv qualitativ verändert haben. Zu beobachten ist eher, dass die Zunahme der Belastungen zu einer Akzentuierung psychiatrisch relevanter Symptomatik geführt hat, was die Zunahme der Anmeldungen erklären könnte.

Wie lange ist die Wartezeit im Ambulatorium in Rheinfelden?
Jede Anmeldung wird fachlich durch unser Anmeldeteam beurteilt. Grundsätzlich werden Notfälle sofort einbestellt und Anmeldungen, die als dringend eingestuft werden, innerhalb von zehn Tagen gesehen. Dringend ist ein Fall dann, wenn es zu einer Verschlechterung der psychischen Symptomatik kommt – beispielsweise zu einer schweren depressiven Symptomatik, zu einer ausgeprägten Angst- oder Zwangssymptomatik, zu massiven selbstverletzenden Verhaltensweisen – oder wenn das familiäre System sehr stark belastet ist. Aufgrund der kontinuierlichen Vergrösserung des Ambulatoriums sowie einer damit verbundenen Personalaufstockung im Juni 2021 (eine Psychologenstelle und eine Arztstelle mehr) hat sich auch für reguläre Anmeldungen eine gewisse Entspannung ergeben. Die Wartezeit für Abklärungen beträgt in Rheinfelden aktuell etwa ein bis zwei Monate. Wenn eine Abklärung die Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung ergibt, versuchen wir eine solche in unserem Ambulatorium anzubieten. Aus unserer Sicht gibt es zu wenig Praxen im ganzen Kanton, an die wir die Kinder und Jugendlichen nach unserer Abklärung bei Bedarf für eine Therapie weiterweisen könnten.

Gibt es einen Versorgungsnotstand?
Die Versorgungsqualität ist grundsätzlich gut. Aufgrund der enormen Zunahme an Anmeldungen gibt es jedoch eine Überlastung der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die COVID-19-Pandemie mit den damit einhergehenden Belastungen für Kinder und Jugendliche hat die angespannte Versorgungslage akzentuiert. Gleichzeitig fehlt der Nachwuchs, es lassen sich aktuell nur wenige Medizinstudierende nach dem Abschluss des Studiums in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ausbilden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen liegt der Schwerpunkt der medizinischen Ausbildung in den somatischen Fächern; zum anderen ist das Salär im Vergleich zu anderen Arztberufen geringer. Ausserdem ist die Psychotherapieausbildung aufwändig und muss oft selbst finanziert werden. Und nicht zuletzt sind Therapieerfolge in somatischen Fächern schneller zu erreichen.

Wie möchten die PDAG der angespannten Versorgungslage entgegenwirken?
Die erwähnte räumliche Erweiterung und Personalaufstockung im Ambulatorium Fricktal hat die Situation etwas entspannt. Ähnliches ist in den anderen Ambulatorien der PDAG im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel bereits umgesetzt oder geplant. Diese Akzentuierung betrifft aber natürlich auch andere Institutionen, die Kindern und Jugendlichen Hilfe anbieten. Es braucht einen gemeinsamen Effort von verschiedenen Seiten.

Wie gehen Betroffene mit der Wartezeit um?
Es braucht stets eine sorgfältige Abklärung, bevor eine Therapieindikation gestellt werden kann. In akuten psychiatrischen Situationen ist eine Krisenintervention immer gewährleistet. Wenn in Folge der Abklärung eine Indikation für Therapie gestellt wird, unser Ambulatorium aber nicht unmittelbar einen Behandlungsplatz anbieten kann, unterstützen wir die Eltern, einen solchen bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten zu suchen. Dies ist erfahrungsgemäss jedoch sehr schwierig.

Welche Kinder und Jugendlichen können ambulant behandelt werden und in welchen Fällen ist ein stationärer Aufenthalt notwendig?
Wann immer möglich streben wir an, den Kindern und Jugendlichen einen Verbleib in ihrem gewohnten Umfeld zu ermöglichen. Deshalb versuchen wir, die Gründe und Ziele eines stationären Aufenthaltes vorher mit den Betroffenen und deren Bezugspersonen sehr sorgfältig abzuklären. Wenn das Funktionsniveau eine Tagesstruktur nicht mehr zulässt und gleichzeitig dieses von einer psychiatrischen Diagnose (mit-)verursacht wird, sollte eine stationäre Behandlung ins Auge gefasst werden. Mit dem Funktionsniveau ist gemeint, ob das Kind oder der Jugendliche den Anforderungen des Alltags gerecht werden kann: regelmässiger Schulbesuch, Absolvieren von Prüfungen, soziale Kontakte pflegen, Freizeitbeschäftigungen nachgehen usw.

Auch im Falle einer andauernden akuten Selbst- oder Fremdgefährdung ist eine Hospitalisation oft unumgänglich.

Wie geht es den Eltern von psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen?
Der Umgang ist individuell und hängt von sozio-ökonomischen Faktoren ab. Ein harmonisches familiäres Umfeld mit einer guten Vernetzung ohne finanzielle Sorgen und mit viel Platz begünstigt sicherlich den Umgang mit der schwierigen Situation.

Wie arbeitet man psychotherapeutisch mit jungen Menschen?
Je nach Hintergrund des Therapeuten und der vorliegenden Diagnose ist das psychotherapeutische Arbeiten unterschiedlich. Bei kleineren Kindern ist der Zugang über das therapeutische Spiel eine gute Behandlungsmöglichkeit. Je älter ein Kind wird, desto mehr wird das Gespräch zur Mentalisierung der vorliegenden Problematik genutzt. Wir möchten insbesondere die vorhandenen Stärken und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen fördern. Wichtig ist uns auch, Kinder und Jugendliche über die Abklärungsschritte aufzuklären und sie in den Entscheidungsprozess für den Behandlungsplan miteinzubeziehen. Die Einbindung der Eltern oder der ganzen Familie ist je nachdem auch angezeigt.

Wann arbeitet ein Psychiater und wann ein Psychotherapeut mit den Kindern und Jugendlichen?
Sowohl Psychologen als auch Psychiater können psychotherapeutisch arbeiten. Gerade in der Psychodiagnostik und bei psychotherapeutischen Verfahren haben Psychologen sehr umfangreiche Kenntnisse. Bei erheblichen psychischen Erkrankungen (z. B. schwere depressive Erkrankung mit oder ohne Suizidgedanken) von Minderjährigen ist gemäss Bundesamt für Gesundheit der Einbezug eines Kinder- und Jugendpsychiaters angezeigt.

Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen ist aufwändig. Warum?
Mehr als 50 Prozent aller psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 18. Lebensjahr. Die rechtzeitige Erkennung von Problemen im Kindesalter ist damit auch eine wichtige präventive Aufgabe. Rechnet doch die Weltgesundheitsorganisation damit, dass in Zukunft psychische Erkrankungen der Hauptgrund für Invalidität sein werden.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird präventiv und vernetzt gearbeitet, was zu einem erheblichen Anteil nicht durch die Leistungen der Krankenkasse gedeckt ist. Für eine umfassende kinder- und jugendpsychiatrische Abklärung sind Telefonate mit Kindergarten, Schule, Betreuungspersonen, Beiständen u.v.m. nötig. Frühe Interventionen im Kinder- und Jugendbereich verhindern kostenintensive Verläufe im Erwachsenenleben.


Ambulatorien im Aargau

Psychische Auffälligkeiten kommen bei rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen vor. Etwa die Hälfte der Betroffenen entwickelt eine psychische Erkrankung. Zentral dabei ist, die Erkrankung möglichst früh zu erkennen und sie rechtzeitig und richtig zu behandeln. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) ist im Kanton Aargau an fünf Standorten vertreten. Neben dem Hauptstandort in Windisch (Königsfelden) gibt es Ambulatorien in Aarau, Baden, Rheinfelden und Wohlen. Die Teams bestehen aus ärztlichen und psychologischen Fachpersonen. (nfz)


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