«Ich bin glücklich, arbeiten zu können»
20.01.2023 Ittenthal, PersönlichStatt zu verzweifeln, geht Irina Potapova ihr Leben aktiv an
Gestalten und organisieren gehörten zum Berufsalltag von Irina Potapova in der Ukraine. Seit bald einem Jahr lebt sie mit Tochter Anna nun schon in Ittenthal. Einfach nur zuwarten, bis sie zurückkehren können, kommt für die Grafikdesignerin nicht in Frage. Mittlerweile können Mutter wie Tochter nicht nur sehr gut Deutsch; beide haben auch eine Arbeitsstelle gefunden.
Susanne Hörth
«Ich bin unseren Gastgebern so dankbar, ohne deren Unterstützung und Motivation wäre es nicht möglich gewesen, das zu erreichen, was wir bisher geschafft haben. Sie haben mir schon am ersten Tag gesagt. ‹Wartet nicht zu. Lernt Deutsch, macht etwas.›» Irina Potapova formuliert ihre Sätze sehr bewusst, korrigiert sich dort, wo sie mit der Grammatik nicht zufrieden ist. «Für mich ist es sehr wichtig, dass mir die Leute sagen, wenn ich etwas nicht richtig ausspreche oder ein Wort falsch wähle. Nur so kann ich mich verbessern.» Seit 6. März vergangenen Jahres lebt die Ukrainerin mit ihrer Tochter Anna bei einer Gastfamilie in Ittenthal. Seit jenem Tag lernt sie Deutsch. «Vorher habe ich noch nie eine Fremdsprache gesprochen», sagt sie wieder so klar, dass ihr Gegenüber nicht umhinkommt, ihr für die innert kürzester Zeit so gut erlernte Sprache zu gratulieren. «Ich will nach vorne schauen, die Zeit nutzen und für meine Tochter das Beste erreichen.» Es sind keine leeren Worte. Es ist der gelebte Alltag der 45-jährigen Irina Potapova.
«Als russische Soldaten in Irpen ankamen, das ist von unserem Wohnort in Kiew etwa so weit entfernt wie Ittenthal von Kaisten, wusste ich, dass ich mit meiner Tochter nicht hierbleiben kann. Es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen.» Ihr blieben nur wenige Stunden, um das Nötigste zu packen und mit der damals 17-jährigen Anna zum Bahnhof zu fahren. «Wohin uns unsere Reise führen wird, wussten wir zu jenem Zeitpunkt nicht.» Dass sie ihren Mann, ihre Mutter und auch viele Freunde zurücklassen musste, belastet sie. Damals wie heute. Die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen gibt sie nicht auf. Gleichzeitig stellt sie sich aktiv den Herausforderungen eines Landes, welches sie zuvor nicht gekannt hat.
«Auf Empfehlung der Gastfamilie haben wir im Internet einen Lehrer gefunden, die uns für wenig Geld Deutschunterricht erteilte.» Und das viermal pro Woche, jeweils einige Stunden lang und mit einer Menge an Hausaufgaben. Irina und Anna Potapova beliessen es nicht nur bei diesem Fernunterricht. «Wir üben ständig, denn wir wollen vorwärtskommen.» Dieses Vorwärtskommen zeigt sich auch anderweitig. «Für mich war klar, dass ich arbeiten will und so weit wie möglich selbständig werde.» Die ausgebildete Grafikdesignerin, die in Kiew zusammen mit ihrem Mann ein eigenes Geschäft in dieser Branche führte, begann schon bald damit, sich zu bewerben. Auch bei der regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) sprach sie vor. «Ich bekam nur Absagen.» So gerne sie in ihrem geliebten, kreativen Beruf tätig wäre, so sehr versteht sie auch, dass dies vorläufig noch nicht möglich ist. Sie bewarb sich auf die unterschiedlichsten Stellen.
Seit einiger Zeit arbeitet sie nun in einem 50-Prozent-Pensum im Restaurant eines Basler Detailhändlers an der Kasse. Sozialhilfe bezieht sie bereits seit Juni vergangenen Jahres keine mehr. Auch Tochter Anna hat zwischenzeitlich eine Stelle bei einer Bank gefunden. «Es wäre so schön, wenn sie hier in der Schweiz eine Lehre machen oder die Fachhochschule besuchen könnte», ist Irina Potapova voller Hoffnung. Gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass all diese Überlegungen mit dem Flüchtlingsstatus zusammenhängen.
Freude und Leid
Wann und ob sie zurück in die Ukraine können, weiss sie nicht. «Es ist manchmal so schwierig. Hier in der Schweiz erleben wir wunderschöne, positive Augenblicke. Gleichzeitig sind da aber auch die schlimmen Situationen in der Ukraine.» Sie erzählt von Freunden, die das Leben in diesem unsäglichen Krieg verloren haben. Der Mutter, die vor wenigen Wochen einen Schlaganfall erlitten hatte und in dem Krankenhaus, in dem sie untergebracht wurde, eine Bombe eingeschlagen ist. «Zum Glück ist meiner Mutter dabei nichts passiert.» Wenn ihr Mann oft ohne Strom auskommen muss, so ist sie gleichzeitig auch froh, dass es ihm gut geht und er eine grosse Solidarität von Bekannten und Geschäftskunden erfährt. «Man hilft sich daheim gegenseitig.»
Energisch richtet sich Irina Potapova auf und lächelt. «Ich bin glücklich, dass ich eine Arbeit gefunden habe, Meiner Tochter geht es ebenso. Wir gehen jetzt Schritt für Schritt.» Einen guten Job machen und dafür gute Zeugnisse erhalten sei für ihren weiteren Weg sehr wichtig. Es spiele eine untergeordnete Rolle, welcher Arbeit man nachgehe. Dabei könne man nicht nur das Wissen erweitern und viele Erfahrungen sammeln. «Es hilft uns auch, mit der Situation in unserem Heimatland zurechtzukommen.» Sie fügt an: «Die enorme Unterstützung durch die lokale Gemeinschaft gibt mir Hoffnung und ein grosses Gefühl der Dankbarkeit.» Eine Dankbarkeit, welche sie auch gegenüber allen Gastfamilien und der Schweizer Gesellschaft betonen möchte. «Ich hatte sehr viel Glück. Die klugen Ratschläge und die Hilfe unserer Gastfamilie haben uns den richtigen Start ermöglicht. Die Ukrainer sind ein fleissiges Volk. Wir brauchen nur Hilfe, um uns in einer neuen Umgebung und einer neuen Sprache zurechtzufinden. Und dann können wir für die Gesellschaft von Nutzen sein.»
Auch anderen helfen können
Längst hat sie auch eine Vermittlerrolle hier in der Schweiz einnehmen können. So wurde sie etwa eingeladen, am Neuzuzüger-Treffen in Kaisten eine Rede zu halten, was sie sehr gerne tat und sie zugleich mit grossem Stolz erfüllte. Sie freut sich ebenfalls, einer dreiköpfigen ukrainischen Familie, die vor wenigen Wochen in Kaisten angekommen ist, im Alltag in der noch fremden Umgebung ein wenig Unterstützung anbieten zu können.
Trotz aller bürokratischer und finanzieller Hürden möchte Irina Potapova noch selbständiger werden und: «Eine Ausbildung für Anna finden. Das ist das Allerwichtigste.»