«Surprise» – die Überraschung

  23.12.2022 Rheinfelden

Gedanken zu Weihnachten

Walter Herzog

Bestimmt haben Sie ihn schon gesehen – oder sie. Beim Einkaufen im Coop oder in der Migros, oder beim Lädele oder Shoppen in einer grösseren Stadt.

Unaufgeregt, unaufdringlich stehen sie da, eher bescheiden gekleidet. Häufig lächeln sie einem mit ihren meist fremdländischen Augen kurz zu.

Schnell taucht unser Blick wieder weg – wir wollen doch nichts… Um nur Sekunden später noch einmal einen Blick zu riskieren. Wer ist diese Person? Was macht sie hier? Was will sie von mir?

Mit dem zweiten Blick realisiere ich, dass sie in der Hand einen Stapel Zeitschriften hält. Keine Bettlerin also…

Was könnten dies für Zeitschriften sein? – Nein, warum sollte ich dies auch wissen wollen? Wozu auch? Am Schluss handelt es sich bestimmt nur um billige Propaganda, möglicherweise um eine Sekte. «Komm doch endlich, wir müssen weiter!», ruft meine Frau. Also gehen wir weiter unseren gewohnten Weg und folgen unserer Routine. Der verdiente Kaffee wartet schliesslich bereits um die Ecke, unsere Freunde und der gewohnte Klatsch auch.

Doch halt – irgendeine Kraft hält mich zurück. Und so wirklich fremd sind mir diese Augen, dieses Gesicht nun doch auch wieder nicht. Habe ich nicht dieselbe Person schon vor einer Woche am gleichen Ort gesehen? Was bewegt sie, wieder hier zu stehen? Warum macht sie das? Wer schickt sie? Und überhaupt, was für ein Magazin verkauft sie denn?

Mutig und auf der Suche nach Antworten verlasse ich meinen gewohnten Trampelpfad und gehe auf die Frau zu. Ich schätze ihr Alter auf gegen 50 Jahre. «Guten Tag, ich habe Sie bereits vor einer Woche hier gesehen. Was für ein Magazin verkaufen Sie denn?»

«Äh… guten Tag – Surprise…» kommt mit zurückhaltender Stimme und ausländischem Akzent als Antwort zurück. Schüchtern streckt sie mir ein Exemplar entgegen.

Interessiert schaue ich hinein und lese da: «… Surprise ist ein Strassenmagazin – der Verkauf dieses Strassenmagazins ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden. Ein Strassenmagazin kostet sechs Franken.

Die Hälfte davon geht an den Verkäufer oder die Verkäuferin, die andere Hälfte an den Verein Surprise. Damit werden die Heftproduktion, die soziale Unterstützung der Verkaufenden und die vielen weiteren Angebote für armutsbetroffene Menschen finanziert.»

Aha, so ist das, denke ich. Keine schlechte Sache also.

Weiter lese ich vom sechzigjährigen Roberto Vicini, welcher seit über 15 Jahren das Strassenmagazin verkauft. Dabei nimmt er sich gerne Zeit für einen Schwatz und steckt seine Kundschaft mit seinem Lachen an. Er braucht nicht viel und lebt sehr bescheiden. Dennoch kommt Roberto Vicini ohne zusätzliche Unterstützung vom Verein Surprise nicht durch.

Ähnlich ist es bei Ruedi Kälin, er ist 64 und ebenfalls Verkäufer des Strassenmagazins. Weil er keine Familienmitglieder mehr hat, verbringt er die Weihnachtszeit am liebsten beim Verkaufen, wegen der guten Leute und Gespräche...

Meine Gedanken drehen sich nun intensiv um die Lebensgeschichten und Schicksale von Ruedi Kälin, Roberto Vicini und vielen anderen, von Armut betroffenen Menschen – vergessen sind der Einkaufsstress, der gewohnte Kaffeetermin und die weiteren Verpflichtungen, vergessen sind auch die international grossen Themen wie Krieg, Pandemie oder Strommangellage.

Auch in der Schweiz gibt es sie, die Armut. Nicht wenige Menschen, welche unter uns leben, befinden sich in einer sehr schwierigen Lage und sind von grosser Armut betroffen.

Was sagt uns dies? Die wirklich grossen Probleme befinden sich häufig viel näher bei uns, als wir denken; sie befinden sich mitten unter uns!

Und zum Glück – im Gegensatz zu den grossen weltweiten Problemen – können wir hier direkt etwas bewirken. Wir alle können auf einfache Art mithelfen, diese Armut und die Probleme zu lindern oder zu lösen.

Mit finanzieller Hilfe, mit Zeit für ein Gespräch oder der Unterstützung einer bedürftigen Person. Mit einem sinnvollen Geschenk an einen ärmeren Menschen oder einer Spende an eine geeignete regionale Organisation.

«Sehr gerne kaufe ich ein Strassenmagazin ‹Surprise›!».

Ein freudiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.

Und auf einmal wird aus der mir bisher kaum bekannten Person eine sympathische Verkäuferin des Strassenmagazins.

«Surprise» – was für eine Überraschung!

Frohe Weihnachten für alle!

 


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