Vor 80 Jahren: Singapur fällt
06.02.2022 FricktalProjekt «kriegsnachrichten.ch»: Rückblick auf das 1. Quartal 1942
Hitler hatte im September 1939 Polen überfallen und den Weltkrieg ausgelöst. Im Mai und im Juni 1940 brach Frankreich zusammen. Mussolini glaubte, den Sieger zu kennen. Er trat an Hitlers Seite in den Krieg ein. Seither war die Schweiz, der Guisan auf dem Rütli im Juli 1940 den Weg zur Selbstbehauptung unter widrigen Umständen zeigte, umzingelt. Die ganz besonders akute Gefahr der Zeit zwischen Oktober 1940 und Juni 1941 – damals hatten die Diktatoren noch unbenutzte Kräfte zur Verfügung – war nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in der zweiten Jahreshälfte 1941 zurückgetreten, ohne zu verschwinden. Denn wer konnte wissen, ob die Sowjetunion standhalten würde? Der japanische Überfall auf die amerikanische Flotte im Hafen von Pearl Harbor gab dem Weltkrieg im Dezember 1941 eine wahrhaft globale Dimension.
Die Schweiz blieb bedroht und stand einerseits der britisch-amerikanischen Blockade gegenüber, die verhindern sollte, dass auf diesem Umweg Waren in die Hände der Nazis und Faschisten fielen, andererseits der deutsch-italienischen Gegenblockade, die verhindern wollte, dass allzu viele allzu wertvolle schweizerische Produkte in die Hände der Alliierten fielen. Dazu kam, freilich in den ersten Monaten 1942 erst in Ansätzen, die Flüchtlingsproblematik: Liess Helvetien zu viele Flüchtlinge ins Land, bestand die Gefahr einer Spontanaggression Hitlers, liess sie zu wenige herein, verriet sie ihr humanitäres Erbe. Das Gleichgewicht war au fond gar nicht zu finden, eine ideale Politik unter den höllischen Umständen des Jahres 1942 unmöglich.
Ablehnung der Volkswahl des Bundesrates
Die Prioritäten der Fricktaler Presse am Jahresanfang 1942 waren, wie über den ganzen Krieg, der Verlauf der Kämpfe, dann aber doch auch sehr stark die Schweizer Wirtschaft und innenpolitische Fragen wie die vorgeschlagene Volkswahl des Bundesrates (am 25. Januar 1942 abgelehnt, wie vorher 1898 und nachher 2013). Im Falle der Neuen Rheinfelder Zeitung kam der Kampf ums Überleben dazu. Das Blatt plädierte in seiner Ausgabe vom 2. Januar 1942 bei seinen Abonnenten für Treue: «Baut nicht bei den idealen Gütern an!»
Die problematischen (weil einseitigen) Ärztemissionen des Schweizerischen Roten Kreuzes an die deutsche Ostfront wurden mit der doppelten Begründung der Erweiterung der Berufskenntnisse und der Humanität legitimiert (Volksstimme, 3. Februar). Die Ausgabe berichtet vom sechsten belgischen Kinderzug (456 Kinder, die zur Erholung kamen) und stellt realistisch fest: «Im Übrigen ist bei sämtlichen eingereisten Kindern Unterernährung festgestellt worden.» Am 23. Februar war in Der Frickthaler von 5000 unter ähnlichen Umständen in die Schweiz zu holenden griechischen Kindern zu lesen. Die Lesenden werden unzweifelhaft erkannt haben, wie nah an existentiellen Fragen das eigene Land, das weiterhin zu helfen suchte, doch auch war.
Singapur kapituliert – 80 000 Kriegsgefangene
Existentiellen Fragen gegenüber sah sich auch das britische Empire, nachdem am 15. Februar 1942 Singapur kapituliert hatte und rund 80 000 Soldaten in japanische Kriegsgefangenschaft geraten waren, etwa gleichviele, wie 1871 im Bourbakijahr in der Schweiz interniert worden waren. Die Volksstimme setzte am 17. Februar 1942 weiterhin auf Churchill, mit Einschränkungen:
«In England haben die nacheinander folgenden grossen Rückschläge auf allen Gebieten, der Vormarsch Rommels in Libyen, die Unmöglichkeit, die Durchfahrt der deutschen Grosskampfschiffe durch den Kanal zu verhindern, und die Kapitulation Singapurs, die Stellung der Regierung Churchills aufs schwerste erschüttert. Zwar wird Churchill selbst von der überwiegenden Mehrheit immer noch als der beste Mann am Steuer betrachtet;…»
In derselben Nummer werden die andauernden japanischen Angriffe auf die damals amerikanischen Philippinen, auf Niederländisch Ostindien (Indonesien) und im britischen Burma skizziert. Trotz heroischen Widerstands insbesondere der Amerikaner auf den Philippinen, gelang es den Japanern bis Mitte März 1942 dort die Oberhand zu gewinnen. Niederländisch Ostindien hatte bereits am 8. März bedingungslos kapituliert. Der Fokus richtete sich nun auf Burma. Der Frickthaler schrieb am 9. März: «In Burma rücken die japanischen Truppen nordöstlich Rangun weiter vor. Infolgedessen wird die Indienfrage für London täglich brennender.» Die Briten erhielten direkte militärische Unterstützung der Chinesen Marschall Tschiang Kai-scheks. Die Presse registrierte die Entwicklung präzise. Der Frickthaler schrieb am 30. März: «In Burma spielen sich weitere schwere Kämpfe um Toungoo ab, wo die Chinesen den Flugplatz zurückerobert haben.»
Trotz heroischen Widerstands der Chinesen gewannen die Japaner am Ende die Schlacht und besetzten in der Folgezeit ganz Burma.
Waren also Südostasien und der Pazifik in der Berichterstattung präsent, war es die deutsch-sowjetische Front in einem noch wesentlich stärkeren Mass. Der deutsche Anlauf von 1941 war ja gescheitert, Moskau und Leningrad (das frühere und heutige St. Petersburg) hatten standgehalten. Dazu kam ausgedehnte Partisanentätigkeit. Der Frickthaler am 23. März, unter Berufung auf den Moskauer Frontbericht: «Das deutsche Oberkommando hat sich gezwungen gesehen, aus der Waffen-SS sogenannte Strafexpeditionen zu bilden, die in diesem weitverzweigten Gebiet hinter den deutschen Linien kämpfen.» Die Wortwahl allein löst im Rückblick kalte Schauer aus, damals gewiss nicht weniger. Gleichzeitig erhielten die Lesenden Einblick in die Vorbereitung kommender – und entscheidender – Operationen. Die Neue Rheinfelder Zeitung meldete am 6. März: «Viele Tausende Soldaten der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika sind in Nordirland eingetroffen…» Eine Invasion der britischen Inseln wurde je länger, desto schwieriger, und die Truppen für die Eröffnung der zweiten Front auf dem europäischen Festland marschierten auf.
Von der Wohnungsnot und der Busse für zu frisches Brot!
Wer die Fricktaler Presse las, hatte ein zutreffendes Gesamtbild des Krieges, so zutreffend, wie zeitgenössische Berichterstattung sein kann. Daneben war der Alltag zu bewältigen. Zu diesem Alltag gehörte das Kondolenzschreiben von Bundespräsident Philipp Etter an die Angehörigen von Lawinenopfern (Volksstimme, 5. Februar) und die Bekämpfung der Wohnungsnot (am 13. Februar stellte die NRhZ Winterthur, das günstige Wohnungen subventionierte, als Vorbild hin). Zu diesem Alltag gehörte ebenso die ab 23. Februar zur Zeichnung aufgelegte Bundesanleihe (CHF 400 Millionen, 3 ¼ %) – alternativ zur in einem Inserat (6. März NRhZ angepriesenen Goldmünzensammlung – oder die Bestrafung einer Grossbäckerei mit einer Busse von 2000 Franken wegen des Verkaufs von 24 Stunden altem, also nach den Vorschriften noch zu jungem, Brot oder das Zufrieren des Bielersees (Der Frickthaler, 23. Februar).
Wie pf legten Schweizerinnen und Schweizer im ersten Quartal von 1942 ihre Werte? In Möhlin, so ist der Neuen Rheinfelder Zeitung am 6. März zu entnehmen, gaben die Arbeiter-Gesangvereine Karl Grunders D’Waldmarch, was von der Redaktion mit dem Lob versehen wurde, es zeige sich darin, «dass nicht nur die rohe Gewalt, die Habsucht und Niedertracht am Werke sind, sondern auch die wahre Kultur noch lebendig ge-blieben ist».
Heimatverbundenheit half. Am 23. März 1942 brachte Der Frickthaler auf der Titelseite den Artikel Unser schönes Fricktal, einen eigentlichen Päan (Lobeslied), in den auch ein bloss gelegentlicher Besucher nach 80 Jahren freudig einstimmen wird:
«Unser schönes Fricktal! Wem geht da nicht weit das Herz auf! Wer möchte da nicht hell hinausjauchzen ins Land, dass es tausendfach widerhallte von allen Hängen und Bergen: Kommt, seht mein Ländchen an! Vergesst auf eine Weile den Kriegslärm; vergesst die täglichen Sorgen, die das Gemüt und die Seele belasten; vergesst Kummer und Schmerz! Öffnet Auge und Herz der Schönheit, die die Natur gerade für Euch in so verschwenderischer Weise entfaltet! O das Fricktal ist ein grosser Gesundbrunnen!»
Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit
Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal», des «Frickthaler» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet.
Jürg Stüssi-Lauterburg, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Militärhistoriker. Er wohnt in Windisch. (nfz)