Pflege steht vor grossen Herausforderungen

  05.11.2021 Politik

Am 28. November wird über die Pflegeinitiative entschieden

Pro

Die Zitrone ist ausgepresst

Colette Basler, Grossrätin SP, Zeihen

«Wir sorgen für andere – wer sorgt für uns? Unser Batterietank ist leer, wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen!», dies die Aussage einer Pflegefachfrau. «Ich kann dir kein Argument für die Pflegeinitiative liefern, ich bin so müde und kann nicht mehr denken. Ich musste zwei Sonderschichten schieben, weil wir Personalausfälle hatten und kann mich fast nicht mehr auf den Beinen halten», dies die erschöpfte Antwort meiner Freundin, als ich sie fragte, wegen dieses Textes.

Genau deshalb, weil wir unzählige Pflegende haben, die müde sind, ausgebrannt, nicht mehr können, genau deshalb brauchen wir bessere Arbeitsbedingungen für diese Menschen. Wenn ich höre, dass Frauen und Männer aus ihren wohlverdienten Wochenenden, ihren Freitagen oder gar aus den Ferien an den Arbeitsort zurückbeordert werden, weil zu wenig Personal vor Ort ist, frage ich mich: Wollen wir das? Wie lange kann das gut gehen? Wo ist die Wertschätzung für diese Menschen? Was passiert, wenn sie einfach nicht mehr können? Was passiert, wenn wir dann Pflege benötigen?

Die Corona-Pandemie hat die Defizite im Pflegebereich schonungslos aufgedeckt und verstärkt.

Wie es die Initiative verlangt, brauchen wir dringend eine Sicherung der Qualität, verlässliche Zeit- und Dienstplanungen, familienfreundliche Strukturen und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten. Zudem tut eine Ausbildungsoffensive Not. Eine Milliarde Franken dafür zu investieren, wie es der indirekte Gegenvorschlag tut, ist richtig, reicht aber bei weitem nicht. An der chronischen Überlastung der heute tätigen Pflegenden, deren schwierigen Arbeitsbedingungen und den vielen frühzeitigen Berufsausstiegen ändert sich damit nichts. Mit über 10 000 unbesetzten Stellen haben wir einen Pflegenotstand, welcher sich mit der berechneten Zunahme auf 20 000 bis ins Jahr 2030 dramatisch zuspitzt.

Wir sind bereits jetzt in einer massiven Abhängigkeit vom Ausland, woher 30 % der Beschäftigten kommen. Dort können wir aber nicht weiter rekrutieren, denn auch die Nachbarländer haben mit denselben Problemen zu kämpfen und holen ihre Landsleute zurück. Geschlossene Abteilungen und Spitaldirektoren, die sich nicht trauen zu sagen, wie viele Pflegestellen unbesetzt sind, damit das Personal nicht merkt, wie schlimm die Situation tatsächlich ist, sind Alltag geworden. Ganz zu Schweigen von Pflegefachpersonen, welche nicht mehr genügend Zeit am Patientenbett verbringen können, ständig gestresst sind, Sonderschichten absolvieren müssen und deren Work-Life-Balance arg in Schieflage geraten ist. Damit qualitativ gute Arbeit geleistet werden kann, braucht es Zeit, gute Arbeitsbedingungen und verlässliche Dienstpläne. Es muss uns nachdenklich stimmen, dass knapp 50 % der Pflegenden dem erlernten Beruf vor ihrem 35. Geburtstag den Rücken kehrt. Und apropos Kosten: Muss ein Spital Temporäre suchen, weil es Personalmangel hat, kommt dies 3 bis 4 Mal so teuer zu stehen, als wenn genügend Fachpersonen vorhanden wären.

Die Zitrone ist ausgepresst. Es muss jetzt gehandelt werden und es braucht jetzt Wertschätzung und Dank, und zwar nicht nur monetär, sondern vor allem mit besseren Arbeitsbedingungen. Ich wünsche mir, dass wieder mehr Pflegefachpersonen wie Katharina Fierz sagen: «Die Pflege ist ein anstrengender, aber auch ein schöner Beruf. Der Job gibt unglaublich viel zurück, ist erfüllend, vielfältig, nah am Menschen und bietet vielfältige Karrieremöglichkeiten.»
Deshalb sage ich klar «Ja» zur Pflegeinitiative.


Contra

Ja zu einer starken Pflege mit Annahme des Gegenvorschlages

Alfons Kaufmann, Grossrat die Mitte, Wallbach

Worum geht es in der Initiative?

Art. 117c Pflege

1.Bund und Kantone anerkennen und fördern die Pflege als wichtigen Bestandteil der Gesundheitsversorgung und sorgen für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität.
2.Sie stellen sicher, dass eine genügende Anzahl diplomierter Pflegefachpersonen für den zunehmenden Bedarf zur Verfügung steht und dass die in der Pflege tätigen Personen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden.

Warum lehnt das Parlament die Initiative ab und unterbreitet einen Gegenvorschlag?
Grundsatz: Keine Regeln für einzelne Berufsgruppen in der Verfassung.
Bund (Art. 117a BV) und Kantone sind bereits verpflichtet, die Grundversorgung zu garantieren. Darin eingeschlossen sind weitgehend auch die Anliegen der Initiative. Einkommensgarantie oder anforderungsgerechte Arbeitsbedingungen sind Anliegen, welche zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen und Sozialpartnern geregelt werden. Aus diesen Gründen hat das Parlament einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet.

Mir ist bewusst, dass im Pflegebereich ein sehr grosser Handlungsbedarf besteht und anerkenne die Anliegen der Initiantinnen/Initianten. Leider wird aber mit der Annahme der Initiative noch gar nichts umgesetzt für das Pflegepersonal. Die Anliegen werden in die Verfassung aufgenommen, aber der Weg für eine konkrete Umsetzung beträgt einige Jahre, da verschiedene Gesetzesvorlagen erarbeitet werden müssen. Bestes Beispiel dafür: In der Bundesverfassung ist die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) schon seit dem 1. Januar 1996 in Kraft. Wo sind wir heute? Wie lange haben einzelne Schritte benötigt, und was ist noch alles offen?

Mit dem indirekten Gegenvorschlag des Parlaments kann sofort nach Ablehnung der Initiative eine Ausbildungsoffensive ab 2023 gestartet werden, wofür der Bund und Kantone insgesamt 1 Milliarde über 8 Jahre bereitstellen. Das heisst: Ab 2023 bis 2031 können verschiedenste bekannte Lücken im Bereich der Ausbildung angegangen und umgesetzt werden. Der Nachwuchs ist aus meiner Erfahrung das A und O. Somit ist eine schnelle und langfristige Sicherstellung einer qualitativ hochstehenden und für alle zugänglichen Pflege gewährleistet. Diese Ausbildungsoffensive unterstützt unter anderem Studierende HF/FH, welche eine Pflegeausbildung absolvieren. Zusätzlich sind Unterstützungsbeiträge für Spitäler, Kliniken, Pflegeheime und Spitex-Organisationen, welche diplomierte Pflegefachkräfte praktisch ausbilden, darin enthalten. Zudem werden Zuschüsse an Fachhochschulen und höhere Fachschulen entrichtet, wenn die Ausbildungsplätze erhöht werden.

Mit dem indirekten Gegenvorschlag wird zusätzlich eine notwendige und sinnvolle Stärkung der Berufsübung angestrebt: Pflegepersonen können definierte Leistungen direkt zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen.

Nicht im indirekten Gegenvorschlag enthalten sind: Massnahmen für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Lohn und mehr berufliche Entwicklungsmöglichkeiten, sowie eine Personaldotation, die dem Bedarf der Patientinnen und Patienten entspricht und ihre Sicherheit gewährleistet. Das sind prüfenswerte und wichtige Anliegen. Alle diese Massnahmen dürfen und sollen aber unter keinen Umständen in die Bundesverfassung, weil diese da nicht hineingehören. Arbeitsbedingungen und Löhne bleiben primär in der Zuständigkeit der Kantone, Betriebe und Sozialpartner. Für die berufliche Entwicklung sind die Bildungsakteure und die Betriebe zuständig, denn diese sind in der Schweiz verantwortlich für die Entwicklung der Berufsbilder. Darum unterstützen wir unser Pflegepersonal mit der Ablehnung der Initiative und dem sofortigen Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlages schon ab 2023 und nicht erst 2048, sollte es mindestens so lange gehen wie bei der Gleichstellung.


Initiative und Gegenvorschlag

Die Initiative verlangt, dass Bund und Kantone die Pflege fördern. Sie sollen für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität sorgen. Es soll genügend diplomierte Pflegefachpersonen geben und in der Pflege tätige Personen sollen entsprechend ihrer Ausbildung und ihren Kompetenzen eingesetzt werden. Auch verlangt die Initiative, dass der Bund die Arbeitsbedingungen regelt und für eine angemessene Abgeltung der Pflegeleistungen sorgt. Ausserdem sollen Pflegefachpersonen gewisse Leistungen direkt zulasten der Krankenkasse abrechnen können. Bundesrat und Parlament geht die Initiative zu weit. Sie stellen ihr einen indirekten Gegenvorschlag gegenüber. Die Aus- und Weiterbildung soll während acht Jahren mit bis zu einer Milliarde Franken gefördert werden. (mgt/nfz)


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