«Einer für alle, alle für einen»

  05.01.2021 Fricktal

Was wir aus einer Krise lernen können

Vor 162 Jahren wurden grössere Gebiete der Schweiz durch das Überlaufen von Seen und Flüssen unter Wasser gesetzt. Zuerst der starke Regen vom 27. und 28. September, dann jener von Anfang Oktober: Der Herbst 1868 war einer der regenreichsten und katastrophalsten der Schweizer Geschichte. In den am meisten betroffenen Kantonen Tessin, Wallis, Graubünden, Uri und St. Gallen forderten die Niederschläge 51 Todesopfer. Die grossen Schäden beliefen sich in heutiger Währung auf über eine Milliarde Franken.

Die grosse Überschwemmung habe nicht nur die Landschaft geformt, sondern auch die Politik und die Gesellschaft, sagen Experten aus heutiger Sicht.

Die Betroffenheit im Land war gross. Bereits zwei Tage nach den Überschwemmungen gab es Hilfsangebote aus der ganzen Schweiz. Dem Bundesrat fehlte zwar ein entsprechender Verfassungsauftrag, nach dem Motto «ausserordentliche Lagen und Verhältnisse bedingen auch ausserordentliche Mittel zur Abwendung der Noth» berief er aber eine Konferenz ein, um die Hilfstätigkeiten zu organisieren und ihnen «Stimmung und Halt, Einheit und Zusammenhang zu verleihen». Damit ergriff er erstmals seit seinem noch jungen Bestehen die Initiative bei der Bewältigung einer Katastrophe. Die Konferenz beauftragte den Bundesrat am 12. Oktober 1868 mit einem nationalen Spendenaufruf, berief ein Zentralhilfskomitee und setzte eine Expertenkommission zur Schadenschätzung ein. Die folgende Spendensammlung belebte die «alt bewährte Liebe und ewige Treue» der Miteidgenossen und wurde unter dem Wahlspruch «Einer für alle, alle für einen!» zur wohl erfolgreichsten Sammlung der Schweizer Geschichte, die auch heutige Aktionen der Glückskette in den Schatten stellt: Es wurden 3,6 Millionen Franken gespendet, zusammen mit Naturalien beliefen sich die Spenden auf eine Summe von etwa 4 Millionen Franken, was heute über 250 Millionen Franken entspricht. Die Geldspenden stammten von Privaten, aus Benefizveranstaltungen oder aus Firmen-, Kirchen-, Schulund Gemeindekollekten, aber auch von bekannten Persönlichkeiten. Zürich, Bern und Basel-Stadt waren die wichtigsten Geberkantone, aber auch die Westschweizer Bevölkerung setzte sich trotz der räumlichen und kulturellen Distanz stark ein. Die Solidarität in der Schweiz war enorm, was stark zur nationalen Identität beigetragen hat.

Eine gut organisierte, funktionierende und von allen getragene Gemeinschaft ist gerade in Zeiten der Krise enorm wichtig. Der Beitrag vieler Einzelpersonen, auch wenn er zuweilen Opfer bedeutet, kann in der Krise für alle viel Positives bewirken. Und die Gemeinschaft kann den Einzelnen oder die Unternehmen, welche ohne eigenes Verschulden in diese Krise geraten sind, unterstützen.

«Einer für alle, alle für einen» oder lateinisch «Unus pro omnibus, omnes pro uno». Gerade für unser Land haben diese sechs Worte seit 1868 eine grosse Bedeutung, sind sie doch zu einer Art Leitspruch der Schweiz geworden und prangen prominent an der Kuppel des Bundeshauses. «Einer für alle, alle für einen» – vielleicht erinnern wir uns gerade in der aktuellen Corona-Pandemie wieder daran.


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