«Viele Leute wünschen sich einen stärkeren Austausch»
18.12.2020 RheinfeldenHeute: Internationaler Tag der Migranten
Die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) veröffentlicht heute Freitag eine Studie zum Thema «wie Migration von der ansässigen Bevölkerung wahrgenommen wird». Zu dieser Studie sind auch Leute in Rheinfelden befragt worden. Sibylle Siegwart, stellvertretende Geschäftsführerin der EKM, erklärt, welche Erkenntnisse gewonnen werden konnten.
Valentin Zumsteg
NFZ: Frau Siegwart, wieso hat die Migrationskommission diese Studie in Auftrag gegeben?
Sibylle Siegwart: Es wird sehr viel über die Befindlichkeiten oder Probleme von Migrantinnen und Migranten geforscht. Was die Zuwanderung oder allgemein die Veränderungen bei der ansässigen Bevölkerung auslöst, dazu gibt es hingegen wenig Forschung. Das war für uns der Anstoss, dieses Thema aufzunehmen und zusammen mit der Universität Neuchâtel diese Studie durchzuführen.
Welche überraschenden Erkenntnisse hat die Studie ergeben?
Ich finde es eindrücklich, dass die Zuwanderung meistens nur in Verbindung mit anderen Themen angesprochen wurde. Wir wollten wissen, was die Leute bewegt und wie sie Veränderungen beurteilen. Viele der Befragten empfinden die Begleiterscheinungen des Wachstums als störend. Genannt wurden die starke Bautätigkeit, die zunehmende Verkehrsbelastung oder die befürchtete Verarmung des Soziallebens. Diese Veränderungen werden nur von einer Minderheit von den Befragten mit der Zuwanderung verknüpft. Für die grosse Mehrheit sind aber der Austausch und die Begegnungsmöglichkeiten von grosser Bedeutung. Die lokale Sprache zu sprechen und sich am lokalen Leben zu beteiligen, wird als Grundlage für Vertrauen, Akzeptanz und Verbundenheit gewertet.
In Rheinfelden hat die Befragung 2019 anlässlich des «Multikulti-Festivals der Kulturen» stattgefunden. Ist das aus Ihrer Sicht nicht etwas einseitig?
Die Forschungsgruppen der Universität Neuchâtel haben – wenn möglich – versucht, die Umfragen mit einer lokalen Veranstaltung zu verbinden, an der es viele Menschen hat. Gemäss Forschenden handelt es sich bei diesem Festival um einen Anlass, der viele verschiedene Leute aus der Gemeinde anzieht – egal, ob mit oder ohne Schweizerpass.
Wäre an einem Schwingfest nicht etwas ganz Anderes herausgekommen?
Da bin ich mir nicht so sicher. Die befragten Personen widerspiegeln recht gut die Gesamtbevölkerung, das haben die Forschenden immer wieder abgeglichen.
In Rheinfelden äusserten sich 27 Personen an den Tablets und 30 über ein persönliches Interview. An den anderen Orten waren es vergleichbare Zahlen. Wie repräsentativ ist das?
Es ist klar, das ist keine quantitative, sondern eine qualitative Forschung. Die Stärke dieser Studie besteht darin, dass die Forschenden vor Ort gegangen sind und das Gespräch mit den Menschen gesucht haben. Die Studie wiedergibt eine Befindlichkeit der ansässigen Bevölkerung.
Wie haben sich die Rheinfelder Interviewpartner geäussert?
Die Leute in Rheinfelden schilderten ähnliche Probleme wie die Befragten in Lutry. Beides sind eher reichere Gemeinden mit relativ vielen Expats; das wird zwar nicht als Problem wahrgenommen, aber es wird bemängelt, dass wenig Interaktion stattfindet. Ein anderes Thema waren für viele die hohen Immobilienpreise, diese werden teilweise mit den Expats in Verbindung gebracht. Auch genannt wurde eine gewisse Segregation, also eine relativ klare Trennung zwischen reicheren und ärmeren Quartieren. Hier fehle der Austausch.
Zum Schluss: Was braucht es, damit Integration für beide Seiten gelingt?
Für die Gestaltung der Zukunft von Agglomerationsgemeinden ist es wichtig, die Bedürfnisse aller Einwohnerinnen und Einwohner zu berücksichtigen und Brücken zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen zu schlagen. Rascher Wandel sollte daher von den Verantwortlichen in einer Gemeinde ausreichend begleitet, kommuniziert und wenn möglich auch partizipativ geplant werden.
«Der Wandel macht Angst, nicht die Zuwanderung»
Studie zum Thema Migration mit Rheinfelder Beteiligung
Die Zuwanderung wird als Teil des gesellschaftlichen Wandels wahrgenommen. Es ist jedoch nicht die Migration für sich, die Angst bereitet, sondern Begleiterscheinungen vom Wachstum. Zu diesen Erkenntnissen führt die neuste Studie der Eidgenössischen Migrationskommission EKM, für die auch Leute in Rheinfelden befragt wurden.
Rund 45 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz leben heute in Agglomerationen. An diesen Orten ist die Entwicklung der letzten Jahrzehnte am deutlichsten erkennund spürbar. Im Rahmen der Studie «Mit- und Nebeneinander in Schweizer Gemeinden – Wie Migration von der ansässigen Bevölkerung wahrgenommen wird», wurden acht Gemeinden aufgesucht. Neben Rheinfelden gehören auch Agno, Belp, Le Locle, Losone, Lutry, Oftringen und Rümlang dazu. Das ergebnisoffene Vorgehen umfasste informelle Gespräche, Kurzinterviews und eine spielerische Tablet-Befragung. Der Besuch in Rheinfelden erfolgte am 31. Mai 2019 anlässlich des Multikulti-Festivals. «Der ausgewiesen multikulturelle Anstrich des Anlasses kann Verzerrungen bei den Teilnehmenden in Richtung eines eher kosmopolitischen, linken Profils bedingt haben», heisst es in der Studie. In Rheinfelden äusserten sich 27 Personen an den Tablets und 30 über ein persönliches Interview.
Zuwanderung als Teil des gesellschaftlichen Wandels
Bezogen auf die Befragungen in allen acht Gemeinden halten die Autoren fest: «Die Menschen sind sich sowohl der positiven wie auch der negativen Aspekte des Wandels bewusst. Und sie beurteilen diese wesentlich differenzierter, als es in politischen Debatten häufig zum Ausdruck kommt.» Zuwanderung werde meist in Verknüpfung mit anderen Themen und selten als herausragendes Problem direkt angesprochen. «Eine ablehnende Haltung bezüglich der Veränderungen in der Agglomeration kann sich jedoch in einer kritischen Einstellung gegenüber Zugewanderten niederschlagen: Das geschieht insbesondere dann, wenn diese nicht nur als Teil, sondern als Verursacher des gesellschaftlichen Wandels wahrgenommen werden. Die beklagte Umweltoder Verkehrsbelastung, intensive Bautätigkeit und Individualisierung der Gesellschaft würden durch sie in besonderem Masse verstärkt und die Qualität des Zusammenlebens beeinträchtigen», heisst es in einer Medienmitteilung.
Präsenz und Teilnahme sind wichtiger als Herkunft.
Zusammenleben mit Menschen aus «näher gelegenen Ländern» werde als problemloser eingestuft. Die Studie zeige jedoch auch auf, dass längere Anwesenheit und Teilnahme am lokalen Leben die Bedeutung relativiert, die Ansässige der Herkunft von Gemeindebewohnerinnen und -bewohnern beimessen. Die Beteiligung am Wirtschaftsleben und die Sprachkompetenz werden als wichtige Voraussetzungen für die Aufnahme ins lokale Kollektiv gewertet. «Aus lokaler Perspektive kann dies auch als Ausdruck des Willens und Interesses der ansässigen Bevölkerung am Austausch mit Neuzugezogenen gedeutet werden.»
Die Grundhaltung gegenüber Veränderungen variiert je nach Anwesenheitsdauer, Ortsverbundenheit, Alter und politischer Orientierung. Insbesondere ältere, langansässige und ortsverbundene Menschen seien dem lokalen Wachstum und der Zuwanderung von Personen aus dem Ausland gegenüber tendenziell kritischer eingestellt. «Ihnen ist es ein grosses Anliegen, das Ortsbild, die umliegende Landschaft, aber auch die lokalen Gepf logenheiten zu bewahren. Umgekehrt betrachten tendenziell junge, mobile, politisch links eingestellte Menschen sowie Frauen und Personen mit Migrationshintergrund Veränderungen und Zuwanderung häufiger als Normalität.» (mgt/vzu)