«Ich setze mir ehrgeizige Ziele»
28.10.2020 Möhlin, PersönlichEr ist 15 Jahre alt, gehörlos und kommt aus einer Sportlerfamilie. Der Möhliner Marvin Müller gewann diesen Herbst an der Badminton-Schweizermeisterschaft der Gehörlosen zweimal Gold, im Einzel und im Doppel. Dabei soll es aber nicht bleiben.
Birke Luu
Mit 15 Jahren kann keiner erwarten, Schweizermeister zu werden, doch für Marvin Müller wurde dieser Erfolg gerade wahr. Seit vielen Jahren spielt er Badminton – wie auch sein Vater, Onkel und sein älterer Bruder, letzterer sicherte sich die Bronzemedaille an der SM. Marvin Müller trainiert und spielt im Kader der Nordwestschweiz, im Team Baselland und gehört zum Nationalteam der Gehörlosen.
NFZ: Jeder Mensch ist speziell, was genau ist an Dir das Besondere?
Marvin Müller: Dass ich mit meiner Hörbeeinträchtigung Badminton auf hohem Niveau spielen kann. Bei den Gehörlosen-Meisterschaften muss man nämlich immer ohne Hörhilfe spielen, so dass man die Schläge nicht hört und damit nicht genau einschätzen kann, wie stark der Schlag war und wo er hinkommt. Doch ich setze mir gerne ehrgeizige Ziele und freue mich enorm, dass ich gerade die Schweizermeisterschaft gewonnen habe. Bei der vorigen SM kam ich nicht mal ins Viertelfinale. Aber mein Trainer sieht grosses Potential in mir, da ich seine Anweisungen schnell umsetzen kann.
Warum ist Dir der Badminton-Sport so wichtig?
Er bietet mir Ablenkung vom normalen Leben, bedeutet volle Konzentration und lässt mich an meine Grenzen gehen. Ich war schon immer extrem motiviert, meine gesteckten Ziele zu erreichen, das kann ich im Badminton umsetzen. Ich würde sagen, in der Schweiz ist Badminton unter den Gehörlosen der populärste Sport, da es eigene Gehörlosen-Vereine und Meisterschaften gibt. Als ich mich vor Jahren zwischen Tennis und Badminton entscheiden musste, wählte ich letzteres, da ich im Badminton die besseren sportlichen Chancen für die Zukunft sah.
Du bist in einer Sportlerfamilie aufgewachsen. Wie stark hat Dich das beeinflusst?
Eine Sportlerfamilie ist etwas Tolles, da ist immer eine gewisse Konkurrenz vorhanden, durch die man sich pushen kann. Ich bin inzwischen so gut wie mein zwei Jahre älterer Bruder, da kommt es heute auf die Tagesform an. Mein Vater Daniel war früher einmal Schweizermeister bei den Gehörlosen und nahm an deren EM, WM und Olympischen Spielen teil. Und mein Onkel Marcel war wohl der erfolgreichste Schweizer Gehörlosen-Spieler – er war neun Mal Schweizermeister im Badminton. Das beeinf lusst schon. Sehr wichtig ist mir jedoch auch, dass mich meine Familie zu den Turnieren begleitet, mich unterstützt und sich über meine Erfolge freut.
Was waren bislang Deine grössten sportlichen Erfolge?
Definitiv die Siege bei der diesjährigen Schweizermeisterschaft und dann noch die Teilnahme an der WM der Gehörlosen letztes Jahr in Taiwan. Dort gewann ich nichts, aber es war mein grösstes Turnier bisher und sehr wichtig für meine Selbsteinschätzung und zukünftige Entwicklung. Mit den besten Spielern der Welt am gleichen Turnier zu sein, gab mir enormes Selbstvertrauen fürs Weitertrainieren.
Hattest Du auch schon grössere Rückschläge?
Nein, keine grösseren. Aber natürlich gibt es immer wieder kleine Momente, in denen ich mich total ärgere. Einmal war ich sogar längere Zeit auf mich wütend, weil ich das Spiel, das ich eigentlich schon fast gewonnen hatte, in den letzten Minuten dann doch noch verlor.
Wie unterscheidet sich Dein Leben von dem der anderen Teenager?
Ich denke, hauptsächlich meine Wochenenden sind anders. Ich gehe nicht so auf Partys, rauche und trinke nicht, sondern konzentriere mich auf den Sport. Durch meine Hörbeeinträchtigung beobachte ich mehr und besser als andere, überdenke aber auch Entscheidungen länger, weil ich nicht immer sicher bin, alles mitbekommen zu haben. Ich bin rücksichtsvoll und hilfsbereit, da ich weiss, wie es ist, Hilfe zu brauchen. Ausserdem mache ich gerne Sachen für mich und ziehe meinen Sport als Einzelkämpfer durch, weil ich mich dann nur auf mich selbst verlassen muss. Und auf meine Familie natürlich, die ist mir wohl wichtiger als anderen Teenagern.
Du spielst Badminton sowohl bei den Gehörlosen als auch mit den Hörenden. Was ist da für Dich der grösste Unterschied?
Das Niveau – und das ist auf keinen Fall beleidigend gemeint! Im Gehörlosen-Sport sind wir einfach viel weniger und ich bin daher unter den Besten – auf der «normalen» Schweizer Rangliste hingegen bin ich noch sehr weit unten, irgendwo um Platz 550 herum.
Auf Gehörlosen-Meisterschaften kennt zudem jeder jeden, man unterhält sich viel und alles ist sehr kollegial. Hörenden-Turniere hingegen finden viel häufiger statt, besitzen ein höheres, fordernderes Niveau und ich bin zu hundert Prozent nur auf das Spiel fokussiert. Da ich meist mit meinem Bruder hingehe, fühle ich mich dort auch total wohl – vielleicht sogar noch wohler, da es dort mehr um Badminton an sich geht.
Wie wichtig ist Dir Badminton bei Deiner Zukunftsplanung?
Momentan ist mir meine gerade begonnene Ausbildung zum Geomatiker mit Berufsmaturität das Wichtigste. Das will ich in vier Jahren durchgezogen haben, dafür muss ich auch mein Training nun hin und wieder etwas vernachlässigen. Aber dennoch habe ich grosse Pläne für das Badminton! Ich möchte zum Beispiel 2021 an die Deaf lympics (Sommer Olympiade der Gehörlosen) in Brasilien. Dabei geht es mir darum, Erfahrungen zu sammeln, um sportlich weiterzukommen. Letztendlich möchte ich als Spitzensportler meine Ziele erreichen, aber nicht als Profi, denn das gibt es im Gehörlosen-Sport nicht – und bei den Hörenden ist meine Chance wohl zu klein, an die Spitze zu kommen. Ein Platz auf der «normalen» Rangliste unter den Top 100 in der Schweiz wäre für mich schon eine Sensation. Mein realistischerer Traum ist daher, das Halbfinale einer Gehörlosen-WM zu erreichen.
Welchen Rat würdest Du anderen Menschen, anderen Jugendlichen geben?
Man sollte sich auf das Wesentliche im Leben konzentrieren und sich für das einsetzen, was man wirklich erreichen möchte. Es geht darum, schöne Momente zu erleben, auf die man stolz sein kann. Dafür muss man selbst an sich glauben, das motiviert. Zumindest geht es mir so. An der Schweizermeisterschaft hatte beispielsweise keiner erwartet, dass ich siegen würde. Aber ich habe fest an mich geglaubt, war total motiviert und habe dann so toll gespielt, dass ich sogar zweimal Gold gewann.