Es ist vieles nicht vergleichbar
22.04.2020 Fricktal, RheinfeldenCorona und die Spanische Grippe: Vergleich mit 1918
Vor 102 Jahren grassierte die «Spanische Grippe» in der damaligen Weltbevölkerung wie die heutige Pandemie Covid-19. Vieles ist diesbezüglich historisch aufgearbeitet worden. Auch im Rahmen des Projekts «www.kriegsnachrichten. ch» beschrieb und erklärte Dr. Markus Klemm 2018 die Ereignisse jener Zeit. Heute, 102 Jahre später, ist die Bevölkerung erneut mit einer Pandemie konfrontiert. Kann man die zwei Ereignisse vergleichen? Nein, denn heute ist ein Menschenleben wertvoller und die Medien sind schneller!
Der wohl wichtigste Unterschied dieser beiden Epidemie-Ereignisse liegt in der Medienvielfalt. Einerseits war das führende Informationsmedium der breiten Bevölkerung fast ausschliesslich die Zeitung, zweitens wurden viele Meldungen von 1918 aus den kriegsführenden Nationen zensiert oder unterdrückt. Die Behörde und der Zeitungsverleger waren die Filter beim Erscheinen der Meldungen. Danach richtete sich die Diskussion in der Bevölkerung. Heute werden Meldungen weltweit in Sekunden – ungefiltert – an die Bevölkerung verteilt. Die Menge der Meldungen und Gegenmeldungen sind unübersichtlich, und die Politik muss auf diese Flut achten, um die Bevölkerung zu beruhigen. Sie muss Lösungen präsentieren, die wiederum durch die gleichen Medien und Experten sehr schnell zerrissen und/ oder widerlegt werden können.
Am 4. Juni 1918 erscheint in Rheinfelden der erste Artikel zu einer Epidemie. Auf der zweiten Seite der Ausgabe der Vorgängerzeitung der «Neue Fricktaler Zeitung» stand: «Eine neue Epidemie. Wir meinen die Schlecksucht, die im Schweizerland von Tag zu Tag weiter um sich greift, die Konfiserien plündert, den Schokoladenfabrikanten…». Der Artikel ist 23 Zeilen lang. Darunter ein Artikel: «Zunahme der Tuberkulose unter Kindern…» Dieser Artikel besitzt 12 Zeilen. Auf der dritten Seite derselben Ausgabe erscheint der erste Artikel in den Rheinfelder Zeitungen zum Thema: «Eine Epidemie in Spanien. Nach einer Meldung aus Madrid wütet in Spanien eine Epidemie. Die Zahl der erkrankten Personen beträgt mehr als 80 000 [!]. In der Provinz sind 30 Prozent der Bevölkerung von der epidemischen Krankheit befallen…». Der ganze Artikel umfasst 14 Zeilen. Danach ein Artikel über «Mord und Raub», 11 Zeilen. Offensichtlich war die emotionelle Distanz jener Zeit um einiges grösser als die Distanz nach Wuhan für uns heute. Zu viele Tote lagen auf den Schlachtfeldern, als dass diese Fallzahlen zur Epidemie die SchweizerInnen erschütterten konnten. Zwei Tag später doppelt die «Volkstimme aus dem Fricktal» nach: «Spanien. In Spanien herrscht seit einiger Zeit eine epidemische Krankheit, an welcher in Madrid an einem einzigen Tage 110 Personen gestorben sind … Die Epidemie hat bisher etwa 8 Millionen Menschen ergriffen. Die Krankheit soll durch einen Bazillus katharalischen Thypus hervorgerufen worden sein. Andere Nachrichten bezeichnen die Erscheinung als Heufieber». 13 Zeilen, auf der ersten Seite.
Etwas präziser informiert die «Neue Rheinfelder Zeitung» am gleichen Tag: «In Madrid sind 120 000 Fälle der merkwürdigen Krankheit registriert. Die Aerzte sind ohnmächtig…. Sozusagen ist jede Familie betroffen … Die Krankheit hat ihren gutartigen Charakter verloren.. [!]» Weiter berichtet dieser Artikel von einem ‹shutdown› in Spanien. Der Artikel endet mit dem Hinweis «...Die besten Schutzmittel sind frische Luft, Reinlichkeit, fortwährende Desinfektion. Die Genesung wird mehr durch Diät als durch Medikamente gefördert.»
Danach ein vierzeiliger Artikel mit dem Titel: «Auch in Schweden eine Epidemie». Welche Diskussion in dieser Zeit zu diesem Thema in Rheinfelden herrschte, wissen wir nicht. Aber es scheint nicht wirklich ‹das Thema› gewesen zu sein. Zumindest berichten die folgenden Ausgaben beider Zeitungen nichts mehr über diese merkwürdige Epidemie. Erst vier Ausgaben später, am 11. Juni, folgt der nächste kleine Artikel mit der Schlussbemerkung: «… Die Ärzte mahnen zur höchsten Vorsicht und machen darauf aufmerksam, das dem Ausbruch der Pest im Jahre 1889 eine ähnliche Epidemie vorangegangen ist.» 1918 lebten noch Ärzte, welche bereits in der Zeit der dritten und letzten Pestepidemie praktiziert hatten. Diese Epidemie forderte in Europa nur noch wenige Tote, weltweit jedoch ca. 12 Millionen. 1894 entdeckte Alexandre Yersin den Erreger. Jener der Spanischen Grippe war 1918 noch nicht bekannt, ein Medikament ebenso nicht. Erst am 27. Juni 1918 erscheint Spanien wieder in der «Volksstimme aus dem Fricktal»: «Wetterlaunen… » titelt der Artikel. Kein Wort zur Epidemie. Am 2. Juli erscheint ein Artikel über die Erkrankung von 160 bis 180 Soldaten in Andermatt: «Eine ansteckende Krankheit, ähnlich der in Spanien auftretenden Grippe, soll auch an einzelnen schweizerischen Orten aufgetreten sein…» Die Symptome deuten jedoch nicht auf die spanisch Grippe, denn der Artikel meldet: «…Matte Augen, Schwindelanfälle und Brechreiz seien Symptome der ungefährlichen Erkrankungserscheinung.» In derselben Ausgabe erscheint unter Verschiedenes der erste Artikel über die Entstehung der Spanischen Grippe. Die Soldaten an den Frontlinien Frankreichs werden als Hauptverbreitungsquelle bezeichnet. Der Begriff «Spanische Grippe» wird in diesem Artikel erstmals angeführt: «Man nennt [in Frankreich] die Krankheit spanische Grippe, weil sie kürzlich aus Spanien gemeldet wurde…». Der Artikel titelt mit: «Die Influenza-Epidemie in Westeuropa». «Die Grippe, die Spanien heimsuchte, soll nun auch in Innsbruck stärker auftreten.» und «… auch in Deutschland hat die Krankheit ihren Einzug gehalten, wird aber von den Berliner medizinischen Behörden als ungefährlich bezeichnet…» Noch wird also die Lage allgemein falsch eingeschätzt. Die vielen Toten in Spanien sind kein Thema. Die Bevölkerung, ohne unsere modernen Medien, bleibt uninformiert. 102 Jahre später wäre das undenkbar.
4. Juli, einen Monat nach der ersten Meldung aus Spanien: «Eidgenossenschaft: Die sogenannte spanische Krankheit oder Grippe, eine Art Influenza, tritt nun auch in der Schweiz auf: Sie ist in Basel, Zürich, Bern, Chur und Schaffhausen konstatiert worden.» Noch attestieren die Ärzte die Grippe als harmlos. «…die Patienten werden stark angegriffen und machen einen beklagenswerten Eindruck. Man darf sich aber durch die Symptome nicht beeindrucken lassen, den die Krankheit stellt sich sehr bald als durchaus harmlos heraus…». Am 6. Juli erscheint ein Artikel, der darauf hinweist, dass die Grippe bereits Anfang Juni in den Schweizer Truppen auftauchte. Im entsprechenden Artikel steht: «…Die als spanische Grippe bezeichnete Krankheit ist seit Anfang Juni in verschiedenen Truppenkörpern in allen Teilen der Schweiz aufgetreten. Bei einigen Einheiten wurden bis zu 50 Prozent der Bestände betroffen ... Durchgehend wird die Krankheit bei diesen Einheiten als gutartig bezeichnet. » 50 Prozent bei ‹einigen› Einheiten; heute wäre das Verschweigen bzw. Nichtbeachten nicht mehr möglich, unabhängig davon wie gut oder bösartig die Krankheit verliefe. Letztlich bekommt die Spanische Grippe auch in der Presse ihren angemessenen Platz. Wie heute wurden dazumal die an Grippe verstorbenen Menschen in Fallzahlen aufgelistet. Am 3. Juli, nachträglich am 9. Juli berichtet, «sterben vier Menschen in der Schweiz…», in Delsberg wird die Bevölkerung von einer erheblichen Unruhe erfasst. Noch sind es in der Schweiz hauptsächlich Soldaten, die betroffen sind. Am 13. Juli nimmt nun die Sanitätsdirektion des Kantons Aargau Stellung. Offensichtlich reagiert nun die hiesige Bevölkerung auch mit verstärkter Unruhe. Auszug aus dem Artikel in der Volksstimme aus dem Fricktal: «Die Sanitätsdirektion des Kanton Aargaus sieht sich veranlasst, um irrigen Gerüchten und Anschauungen über die neu aufgetretene epidemische Erkrankung zu begegnen, folgendes bekannt zu geben…». Es folgt ein erneutes Verharmlosen der Influenza. Am 16. Juli berichtet die «Volksstimme aus dem Fricktal», dass in Basel kranke Soldaten disloziert wurden: «Die Abteilung der Kranken bewegt sich nur langsam und unsicheren Schrittes vorwärts…» und «...Viele hundert Personen begegnen dem Zug der Kranken, einige schütteln den Kopf, andere gehen vollständig gleichgültig vorüber, weitaus die Mehrzahl aber unserer Miteidgenossen, für die wir auch an der Grenze stehen – lacht !» Am 18. Juli erscheint der erste blattfüllende Artikel zur Epidemie. Im Fokus stehen die Zustände im Militär. «100 Soldaten sind tot…» Am 20. Juli erscheint in der Volksstimme das erste Inserat, welches die Spanische Grippe als Werbeträger nützte: «Spanische Influenza – schützen Sie sich vor Ansteckung durch den Gebrauch von Carbol oder Lyfol-Seife – Marke ‹Callet› .» Am 23. Juli veröffentlicht der Gemeinderat von Rheinfelden die erste ‹Bekanntmachung› mit einer Verfügung. Unter anderem das Schliessen von Kino und Theater, sowie das Einstellen der kirchlichen Versammlungen (Gottesdienst). Strenge Strafen werden angedroht.
Die behördlichen Anordnungen sind also heute bei weitem nicht einzigartig. Nach vier Jahren Krieg und jahrelangem Umgang mit «Essensmärkli» war die Bevölkerung 1918 jedoch anderes gewohnt. Uns überraschte die aktuelle Pandemie im Überfluss und einer fast uneingeschränkten Zügellosigkeit. Ein grosser Unterschied.
Am 25. Juli ist ein Inserat abgedruckt, wo ein Knecht gesucht wird, weil der Vorgänger an der Grippe gestorben sei. Daneben nochmals die Bekanntmachung des Gemeinderates. Am 27. Juli erscheint ein kleines Inserat mit dem simplen Text: «Gegen die Grippe, desinfiziert eure Häuser». Wie haben sie es wohl angestellt? Am 1. August die erste Traueranzeige, für den 31-jährigen Soldaten Albert Hurt, diensttuend als Festungs-Sappeur in Airolo: « ...nach kurzer, schwerer, geduldig ertragener Krankheit im Militärdienst…» verstorben. Liebe Leserin und Leser im 2020, mit Albert Hurt schliesse ich die Aufzählung zur «Informationsflut» von 1918 und zwei Monaten Einblick in die damalige Berichterstattung für die Fricktaler Bevölkerung. Viele Artikel folgten und ich lade sie ein, auf «www.kriegsnachrichten.ch»">www.kriegsnachrichten.ch» selber weiter zu stöbern. Im Artikel von Markus Klemm vom 12. Oktober 2018 in der «Neue Fricktaler Zeitung» können wir lesen, dass 1918/19 an der Pandemie weltweit zwischen 50 und 100 Millionen Menschen gestorben sind, dies bei einer Weltbevölkerung von ca. 1.7 Milliarden Menschen. Vorgängig hatten die Regierungen weltweit ca. 9.6 Millionen, meist junge Soldaten, für das Vaterland und die «nationale Idee» in den Tod geschickt. Ich bin «froh», heute leben zu können, in einer Zeit, wo bei einer Weltbevölkerung von ca. 7.75 Milliarden Menschen weltweit 165 000 mit Corona-Nachweis verstorbene Menschen (Stand 19.4.2020) reichen, um die nationalen Grenzzäune hochschnellen zu lassen und zwischenstaatliche Solidarität zusammenbrechen lässt. Was für ein Rückfall!
Statistisch können wir uns sicher fühlen, zumindest im Vergleich zu 1918/19. Informationen erhalten wir von Fachleuten, Politikern und Wissenschaftlern, aber auch von Verschwörungs-Theoretikern massenweise. Das war 1918 definitiv anders. Wir haben heute die Wahl und wählen zur Hauptsache diejenigen Meldungen aus, die unsere Meinung bestätigt. Heftig wird diskutiert, aber Diskussionen sind die Basis einer guten Demokratie.
Vergegenwärtigen wir uns diese heutige Zeit. Wir haben die einmalige Chance zu beobachten, wie weltweit Menschen in ihre Wohnungen verbannt werden. Wir sind heute Zeitzeugen des ersten globalen ‹shutdown› der Wirtschaft und vor allem auch der Kultur! In den Schulzeugnissen unserer Kinder wird es von ihren Nachkommen nachzulesen sein.
Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit
Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Andreas Rohner, Autor des hier publizierten Sonder-Beitrages, ist Leiter des Projektes «Kriegsnachrichten». Er wohnt in Rheinfelden. (nfz)