«Mein Herzblut ist die soziale Ungleichheit»

  11.01.2020 Rheinfelden

Gespräch mit Ueli Mäder – prominenter Soziologie-Professor und bescheidener Mensch

Ueli Mäder ist einer der bekanntesten Soziologen unseres Landes. Dieser Beitrag soll eine Wertschätzung an einen prominenten, gleichwohl bescheiden auftretenden Einwohner von Rheinfelden sein und dem Leser den Menschen und Soziologen näherbringen.

Christoph Heid

Der Soziologie-Professor von der Universität Basel lebt seit 2013 in Rheinfelden. Seit Ende Juli 2016 ist er emeritiert und nutzt seine Zeit für Familie und Projekte, die ihm wichtig sind. Ueli Mäder, kritischer Soziologe, Militärdienstverweigerer und Gründungsmitglied der POCH in Basel war auch langjähriger Grossrat der Basta. Zudem war er in Basel ein begeisterter Handballspieler in der Nationalliga, Dekan der philosophisch-historischen Fakultät der Uni Basel, ist gern gesehener Gast in den Medien, Fernsehen, Radio und Zeitungen zu aktuellen Themen des Zeitgeschehens, sowie an Veranstaltungen. Er sieht sich selber als «links» stehend, scheut sich aber nicht, seine Gedanken an Veranstaltungen der Rotarier und der SVP vorzutragen. «Mein Herzblut ist die soziale Ungleichheit» sagt Ueli Mäder über sich selbst. Dass er auch von Andersdenkenden eingeladen und respektiert wird, unterstreicht seine Kompetenz als Soziologe. Nebst diversen Publikationen hat Ueli Mäder mehrere, viel beachtete Bücher geschrieben. 24 Jahre wohnte Ueli Mäder mit seiner Familie in einer Wohngemeinschaft (WG) in Basel. Seit er 16 Jahre alt war, hat er immer in WGs gewohnt.

Umzug ins Fricktal
2013 haben Ueli Mäder und seine Frau Esther im ehemaligen Tabakhüsli an der Tempelgasse in Rheinfelden eine 2-Zimmer-Wohnung gemietet. Es ergab sich die Gelegenheit, die Atempraxis seiner Frau und die private Wohnung zu verbinden. «Für mich war es gewöhnungsbedürftig. Ich musste über meinen Schatten springen, denn ich war über Jahrzehnte in Basel sehr daheim», meint Ueli Mäder heute dazu. 2018 sind sie in eine etwas geräumigere Wohnung am Obertorplatz gezügelt. Rheinfelden hat Ueli Mäder und seiner Frau von Anfang an gut gefallen. Ueli Mäder: «Ich habe es von der ersten Sekunde an sehr angenehm empfunden, man grüsst sich, bleibt stehen, redet ein paar Worte miteinander. Wunderschön auch von den Spaziermöglichkeiten. Täglich spazieren wir dem Rhein entlang».

Seit der Aufgabe seiner Lehrtätigkeit 2016 nutzt Ueli Mäder das Privileg, sich freie Zeit zu gönnen. Alle Verpflichtungen und Mandate hat er abgegeben, um etwas langsamer, gründlicher und im eigenen Rhythmus das Leben neu zu gestalten. Bewusst verzichtet er auf ein Handy. «Ich bin und bleibe ein engagierter Mensch, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass einmal etwas Anderes angesagt ist. Ein Buch von vorne bis hinten lesen können, mit Menschen sprechen, die mich interessieren. Ich beschränke mich darauf, ab und zu «Ja» zu sagen für einen Vortrag, für einen Artikel.» Trotzdem lässt sich der Professor darauf ein, wenn das Thema «soziale Ungleichheit» auf der Agenda steht. An Rheinfelden schätzt er, dass es viele Bürgerinnen und Bürger gibt, die sich kümmern, die achtsam umgehen mit dem Gut, das wir haben. «Unser Park wird gepflegt, wir haben ein autofreies Städtli. Ich schätze die Offenheit. Jedes Mal, wenn ich über die alte Brücke laufe (ohne in Deutschland einzukaufen!), dann wird mir die Grenze bewusst, die hier überschritten wird. Diese Offenheit, Rheinnähe, das Grenzüberschreitende prägen auch den Geist und die Gemüter. Deshalb habe ich den Eindruck, unsere Gemeinde hat einen achtsamen Umgang.» so Ueli Mäder.

Das Instrument der Gemeindeversammlung sieht er als bedeutungsvoll. «Solche Strukturen habe ich immer verteidigt. Jeder kann kommen, es ist offen. Es ist ein Ort, an dem alle dasselbe hören, man ist auf Augenhöhe. Solche urdemokratische Orte sind etwas sehr Wichtiges, das ich hochhalten und kultivieren möchte. Dass der Stadtrat eigene Sichten vertritt, das ist wünschenswert, das gehört zur Exekutive, dass sie eigene Vorschläge hat. Das kann auch Kräfte mobilisieren, Widerstand zu leisten. Es ist wichtig, dass diese Kultur spielt.» Verbesserungspotential für Rheinfelden sieht der Professor gleichwohl: Für das Kleingewerbe, die Läden, ist es schwierig. Hier sieht er eine Diskrepanz zwischen der schönen niedlichen Altstadt und Rheinfelden, wo Tausende Leute wohnen aber wenig verknüpft sind mit der örtlichen Struktur.

«Das politisch Liberale ist für mich wichtig und hält die Schweiz zusammen: die Arbeit ist etwas Wichtiges und muss in einem ausgewogenen Verhältnis zum Geld stehen. Dieses Verständnis hat die kleine Schweiz auch ein wenig grossgemacht.»

Den bürgerlich orientierten Stadtrat in Rheinfelden erlebt Ueli Mäder als konzessionsbereit und zugänglich. Er sieht keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Sozialem und Wirtschaftlichkeit. «Beim Stadtammann Franco Mazzi schätze ich seine Offenheit, wir tauschen ab und zu ein paar Worte aus» so Ueli Mäder. Es ist wichtig, die Demokratie auszuweiten in allen Bereichen, näher zu den Leuten zu bringen: «Demokratie ist nicht nur «das Rathaus», nicht nur «der Stimmzettel» – es ist eine wirkliche Teilhabe an den demokratischen Prozessen und an Gesprächen» meint Ueli Mäder.

Aufgewachsen mit fünf Geschwistern
Wichtig und prägend war für Ueli Mäder sein Elternhaus. Aufgewachsen mit fünf Geschwistern lernte er von seinen Eltern, auch sogenannt Randständige wertzuschätzen. Sie haben Randständige zum Übernachten und Essen eingeladen. Ueli Mäder fand Zugang zu ihnen – auch zu einer gefürchigen Person, die den Leuten Angst gemacht und geschrien hat. Er hat mit ihm Holz gespalten und ihn als interessanten Menschen kennengelernt. «Etwas Soziales ist mir schon vom Engagement meiner Eltern zugekommen. Aus einfachen Positionen. Mein Vater war Metzger, arbeitete lange am Fliessband, danach als Hilfsarbeiter bei der SBB, meine Mutter arbeitete als Hilfsverkäuferin. Mein Vater kam dann aus seinem sozialen Engagement heraus ohne adäquate beruf liche Qualifikation zu einer «Fürsorgestelle». Der Werdegang meiner Eltern hat mich beeindruckt und gelehrt, wie jemand zu sozialem Verhalten kommt. Ich habe das Gefühl, dass es viele Leute gibt, die sich sozial verhalten, ohne dass sie dies gross verlauten lassen.»

Militärdienstverweigerer
Ueli Mäder war als Militärdienstverweigerer während fünf Monaten im Gefängnis. Er würde dies heute noch einmal genauso machen und nicht den leichteren Weg einer sanitarischen Ausmusterung gehen. «Für mich war das ein wichtiges Zeichen, nicht alles mitzumachen, was vorgespurt ist. Ich habe immer noch die Hoffnung und Vorstellung, dass privilegierte Länder wie die Schweiz in unserer Welt ein friedliches Zeichen setzen. Global gibt es heute weniger Krieg, als dies im 20. Jahrhundert der Fall war, das muss man, nebst den leider wieder höheren Rüstungsausgaben, auch sehen. Es gibt viele Dinge, die sich wirklich verbessert haben in den letzten Jahren. Darum ist es wichtig, Zeichen zu setzen, nachzudenken über eine soziale, gemeinnützige Haltung der Schweiz».

Privilegiertes Professorendasein
Sein privilegiertes Professorendasein hat Ueli Mäder (nebst kritischen Gesellschaftsanalysen) immer auch dazu benutzt, sich um soziale Anliegen zu kümmern, er hat auch selbst an der Uni Randständige persönlich betreut. Sein Büro war immer offen. Es ist ihm wichtig, alle Menschen als gleichwertig wertzuschätzen. «Ich habe enorm viel Glück gehabt. Es ist so zufällig, wo man auf die Welt kommt. Käme man an einem anderen Ort auf die Welt, wäre man ein anderer Mensch. Deshalb sollte einen das auch etwas auf dem Boden halten und offen dafür machen, wie andere denken und leben» kommentiert Ueli Mäder.

Soziale Ungleichheit
Ueli Mäder sagt: «Soziale Ungleichheit kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Arbeitsfrieden gefährden. Die 300 reichsten in der Schweiz wohnhaften Personen haben ihr Vermögen gemäss der Zeitschrift «Bilanz» in den letzten 20 Jahren von 100 auf 675 Milliarden erhöht. Schaut man auf die Hälfte der gesamten Erdbevölkerung (nicht nur auf die die Hälfte der Schweiz!), dann kommen diese auf 440 Milliarden, also nur gerade 2/3 der 300 reichsten Menschen in der Schweiz. Hier kumuliert sich ein Reichtum und die Akkumulation dieses Reichtums sehe ich als Problem, weil immer weniger davon auch produktiv eingesetzt, sondern privat absorbiert wird. Das Geld fehlt dann. Das ist eine Gefahr und darum problematisiere ich diese Unverhältnismässigkeit auch immer wieder. Einer Gesellschaft geht es gut, wenn es möglichst allen gut geht. Dies war früher ein liberal-politisches Verständnis.»

Als aktiver Sportler (Ueli Mäder spielte früher in der Handball-Nationalliga B) ist es für ihn normal, mit Menschen aller Schichten und aller politischen Ansichten zu kommunizieren. Die Zukunft der AHV und Pensionskassen sieht Ueli Mäder weniger dramatisch als dies in den Medien dargestellt wird. Die höhere Lebenserwartung ist ein Privileg. Der Anteil der älteren Menschen steigt bis zum Jahre 2035. Danach kommen die geburtenschwachen Jahrgänge ins Alter, die «Pillen-Knick»-Generation. Der Anteil der Älteren wird nach 2035 zurück gehen.

«Wir haben in der Schweiz ca. 9 Milliarden Stunden unbezahlte Arbeit und ca. 8 Milliarden Stunden bezahlte Arbeit. Ohne diese unbezahlte Arbeit könnte unsere Gesellschaft nicht funktionieren, aber wir haben immer das Gefühl, nur die bezahlte Arbeit sei produktiv.»

«Seit die Verteilungsfrage wieder virulenter ist, hat die mediale Berichterstattung zu kippen begonnen und ältere Menschen werden zunehmend mit herabsetzenden Titulierungen wie «Alterslast» und «Rentnerschwemme» beleidigt. Das finde ich unsäglich. Wenn ich in Vorträgen die Frage stelle: «Gibt es in der Schweiz mehr «Unter 20-Jährige» oder mehr «Über-65-Jährige», dann meinen die meisten Leute immer, dass die Gruppe der «Ü65» die Grössere ist. Aber es ist umgekehrt, es gibt immer noch mehr «U-20». Wobei in den nächsten 15 Jahren gewiss Herausforderungen auf uns zukommen. Aber die Jungen kosten auch. Und mit den Alten zusammen ist das Verhältnis gegenüber der erwerbsfähigen Bevölkerung stabil.»

Für sein Buch «macht.ch – Geld und Macht in der Schweiz» führte Ueli Mäder Interviews mit 200 reichen Schweizern. Zusammenfassend sagt Ueli Mäder: «Es gibt Reiche und Reiche. Es gibt viele reiche Mächtige, die eine kritische Äquidistanz zum Staat haben. Einige wollen aber wieder mehr politische Verbindlichkeit und nicht alles gläubig dem Markt überlassen. Sie fürchten, dass sonst der soziale Zusammenhalt verloren geht. Es gibt auch Reiche, die sagen «Wer arbeitet ist selber schuld, der hat keine Zeit zum Geld verdienen». Diesen zynischen Spruch habe ich ein paarmal gehört. Er drückt eine Arroganz der Macht aus. Andere Reiche sind wiederum besorgt. Sie zeigen eine Offenheit, die vielleicht auch damit zu tun hat, dass man mit dem Alter näher an die Endlichkeit kommt und sich fragt, was wirklich wichtig im Leben ist. Ich finde es traurig, wenn einen der Reichtum so prägt, dass «genug nie genug» ist. Es gibt aber eben auch solche, die eine gewisse Sättigung erleben und im Alter das Leben mit anderen Augen sehen. Leider merken viele zu spät, dass die nächste Yacht sie nicht glücklicher macht.

Wenn man mehr Gelegenheiten schaffen könnte, dass solche Leute mit ganz anderen, benachteiligten Menschen zusam men kom men, könnte das helfen. Wenn man wirklich sieht: wie leben Leute mit einer Behinderung. Oder Leute, die am Abend die Heizung abstellen, weil sie nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen. Wenn man mit diesen Leuten einen Abend verbringt, dann geht das ans Herz, dann berührt das, und das bringt vielleicht mehr als Zahlen und gute Argumente.»

Gekürzte Fassung des Beitrags «Ueli Mäder – ein soziologischer Blick auf seinen Wohnort Rheinfelden» aus den Rheinfelder Neujahrsblättern 2020.


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