Ein Sturm zieht auf

  13.07.2019 Fricktal, Rheinfelden

Projekt «kriegsnachrichten.ch» blickt zurück auf den 2. Weltkrieg

Schwarze Gewitterwolken ziehen sich über Europa zusammen. «Am 6. Juli 1939 berichtet Herbert von Moos über den ‹grossen Sturm› im Salmensaal. Unkostenbeitrag 1 Franken.»

Das war vor 80 Jahren. Die neue Rheinfelder Zeitung berichtete am 8. Juli 1939: «... Der Vortrag von gestern Abend im Salmensaal, gehalten von Herrn Herbert von Moos, war für die vielen Zuhörer ein Genuss erster Güte. Und etwas weiter unten steht: «... Ein altes Sprichwort sagt, die Politik sei eine H... Sie ist nicht nur das, sie ist vielmehr eine Mörderin der Menschen...»

Fünf Jahre später sind ca. 80 Millionen Menschen durch die Folgen des grossen Gewitters tot.

Ich sitze gerade in meinem Stubensessel und lese die Zeitung vom 4. Juli 1939. Eine Zeit, wo meine Mutter 5 Jahre alt war. Kurz danach begann der 2. Weltkrieg.

Ich lese Nachrichten aus dem Krieg und ich habe das Glück, meinen Eltern darüber noch Fragen stellen zu können: «Da steht etwas in der alten Zeitung, kannst Du Dich noch daran erinnern?»

Meine Geschichte zu dieser Geschichte beginnt erst in den 70er Jahren. In meiner Schulzeit mussten wir ab und zu der Mutter beim Abwaschen und Abtrocknen helfen. Nicht immer freiwillig. Dennoch bleiben mir diese knapp ‹20 Minuten› lebhaft in Erinnerung. Öfters forderten wir die Mutter, während wir das Geschirr trockneten, auf, aus ihrer Kindheit zu erzählen und dies tat sie breitwillig. Die Geschichten handelten sich in den meisten Fällen um Erlebnisse aus dem Krieg, welche meine Mutter als fünf bis zehnjährige in Holland erleben musste. Nachrichten aus dem Krieg. Erzählungen welche mich zweifellos prägten. ‹Oral History› nennt man dies heute. Geschichten mit vielen Emotionen, die aber auch Jahre nach dem Geschehen dem Erzähler zur Verarbeitung des Erlebten behilflich waren.

Berichte aus dem Krieg waren in meiner Kindheit aber nicht nur von der Mutter und ab und zu vom Grossvater in Holland zu hören. Ich wuchs als Mitarbeiterkind im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen auf und spielte mit gleichaltrigen Kinder aus Vietnam, Tibet, Korea und vielen Ländern mehr, auf. Das Appenzell ist idylisch, vom Küchenfenster konnten wir über den Bodensee bis nach Deutschland schauen. Dort war Feindesland für mich, dort waren die Wiedersacher meines Grossvaters zuhause. Zum Glück, dachte ich, wohne ich so hoch oben im appenzellischen und kann von Fern auf die Grenze schauen.

Als Kind der Siebzigerjahre war der kalte Krieg für mich wie eine brennende Lunte, bei der ich glaubte, dass sie demnächst den Sprengsatz erreichte. «Gott sei dank lebe ich nicht an der Grenze und sicher werde ich nie an der Grenze wohnen...». So dachte ich als Kind.

Heute lebe ich an der Grenze und die alte Frage taucht wieder auf: Was geschah? und vor allem was konnte die Bevölkerung an der Grenze von ‹Drüben› in Erfahrung bringen? Zeitungslesend und den Alten zuhörend gelingt mir dies einigermassen. Ich bekomme eine vage Vorstellung von dem was die Grenzbewohner bewegte, Angst und Freude machte; vor 80 Jahren, als meine Mutter 5 Jahre alt war. Aber viel wichtiger für mich ist, dass sich das Feindesland zum Freundesland entwickelt hat. Mit der Auseinandersetzung der elterlichen, ja sogar grosselterlichen Kindheit, ihrer Vergangenheit, lernte ich begreifen wer ich, sie und wir im Allgemeinen sind. Ich begreife, das Geschichten Heimat bedeuten und sogar eine Landschaft beleben und formen. Geschichten, auch wenn sie manchmal schmerzen oder beschämen, sind die Basis unserer Identität. Geschichten zu verlieren bedeutet zu sterben, ges(ch)ichtslos zu sein. Dies zu verhindern ist eines der Ziel des Projektes «kriegsnachrichten.ch».

Neu als Verein organisiert, möchten wir in einem weiteren Projekt die Geschichte von 1939 bis 1945, anhand der damaligen lokalen Zeitungen aufarbeiten und im Internet publizieren, Geschichten von Zeitzeugen sammeln und weiter erzählen. Weiter erzählen an die junge Generation, in Schulzimmer, Vorträgen oder per Internet. Noch fehlen uns die nötigen finanziellen Mittel alle Zeitungsblätter zu digitalisieren, doch wir sind überzeugt, per Crowdfunding und mit Spenden die Geschichten weiter erzählen zu können. Vielleich auch mit Ihrer Hilfe.


Nachrichten aus einer kriegerischer Zeit

Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet.

Andreas Rohner, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Webpublisher und Leiter des Projektes «Kriegsnachrichten». Er wohnt in Rheinfelden. (nfz)

www.kriegsnachrichten.ch


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