In diesem Dorf weht ein anderer Wind

  14.12.2018 Schupfart

Natürliches Wangenrouge und ungeschminkte Freundschaft: Mit Rahel Steinacher und Bettina Hochstrasser auf Streifzug durch die Kindheit und das eigene Dorf. Willkommen in Schupfart.

Ronny Wittenwiler

Es ist ein besonders luftiger Samstagmorgen mitten im Herzen des Fricktals. Der Milan setzt spektakulär zum Sturzflug an, verschwindet steil hinter den Bäumen und wir landen wenig später knapp neben dem Flugfeld bei einem Kaffee. Das war ja klar: keine Reportage über Schupfart ohne den hiesigen Airport. Hier, wo die Motorsegler scheinbar schwerelos den Himmel emporsteigen, als gäbe es keine Grenzen und noch mehr Freiheit, hier gelange ich zur Erkenntnis: In diesem Dorf weht ein anderer Wind. Und das ist gut so.

«Füreinander da sein»
Das Boarding erfolgt oben bei der Turnhalle. Tenü grün, überraschend kommt das nicht. Rahel Steinacher, 24, Bettina Hochstrasser, 24, sie sind nicht einfach bloss ein bisschen DTV Schupfart, wie ihr Trainingsanzug unschwer erkennen lässt, nein, die zwei Freundinnen fürs Leben bekleiden beide ein Amt im Vereinsvorstand.

Zugegeben, und das muss jetzt auch mal gesagt sein, oft ähneln sich Fricktaler Beziehungskisten in dieser Sache: Nicht selten trifft die NFZ im Rahmen dieser Reportage-Serie auf junge Menschen mit einer ganz persönlichen Liebesgeschichte zu ihrem Verein. Das hier soll wieder so eine werden, rasch wird’s klar. «Der Verein ist uns schon sehr wichtig», erzählt Bettina, viel braucht es nicht, um ihrer Aussage Glauben zu schenken: Gerade wieder ist es eine intensive Zeit, drei Abende pro Woche verbringen die Frauen in der Halle. «Turnerabend Ende Januar», sagt Rahel und lacht: «Wir üben seit Oktober, und wenn es vorbei ist – dann beginnt schon bald das Training für die Turnfeste.» Es wird Zeit fürs erste Foto, die Halle im Hintergrund, steter Wegbegleiter im Leben der beiden, darf mit aufs Bild. Wenige Momente zuvor gab Bettina eine bemerkenswerte Essenz dessen zu Protokoll, weshalb ihr all das mehr bedeutet, als bloss die obligate Turnstunde: «Uns wurde im Verein schon früh vorgelebt, was es heisst, füreinander da zu sein. Von klein auf waren wir gut aufgehoben. Dieses Verantwortungsbewusstsein führen wir weiter.» Wenn man so will, ist die Liebesgeschichte zum Verein oft wirklich mehr als ein oberflächlicher Flirt. Man spürt ihn, diesen Stolz, Teil einer Gemeinschaft zu sein und gleichzeitig von ihr getragen zu werden. Dann ist das Foto im Kasten.

Das Kinderzimmer im Freien
Von der Turnhalle geht es zurück hinunter ins Dorf in geordneten Bahnen. «Als Kind rannten wir vorbei an Bäumen, über Wiesen querfeldein nach Hause», sagt Rahel und steckt mit ihrem Fingerzeig das Feld ab. Aus den Kindern von einst sind junge Erwachsene und Schupfart ist etwas grösser geworden. Jetzt stehen hier hübsche Einfamilienhäuser. Nostalgie schwingt mit, vielleicht ein bisschen Wehmut, doch nicht zu sehr. «Vielleicht sind auch wir froh, wenn wir später einmal die Möglichkeit haben, in Schupfart zu bauen», sagt Bettina und der Weg unter unseren Füssen führt zurück tief in die Vergangenheit auf den elterlichen Hof von Rahel Steinacher, diesem Kleinod ihrer Kindheit. Die Rosen im Sommer, das duftende Heu. Der Bach gegenüber der Strasse, der bewaldete Steilhang hinter dem Haus. Es ist eine grenzenlose Freiheit, die mitschwingt, wenn die beiden Freundinnen erzählen, ja gar schwelgen. «Und dann hat uns dein Mami jeweils das Zvieri vom Balkon heruntergelassen. In einem Körbchen an der Schnur.» Sagt Bettina. Und Rahel lacht, die Erinnerung daran, sie ist ganz wach.

Als kurze Zeit später die Obstplantagen an uns vorbeiziehen, geht der Streifzug durch die Kindheit der beiden nahtlos weiter. Hier oben bei den Kirschbäumen verbrachten sie schulfreie Nachmittage, halfen beim Pflücken, trugen Wangenrouge, experimentierten mit Lipgloss, das Fricktaler Chriesi richtig ausgepresst macht nun mal aus jedem Mädchen eine echte Prinzessin. «Einmal nach einer Schlammschlacht waren wir von oben bis unten so dreckig, wir durften nicht einmal mehr auf dem Traktor nachhause fahren.» Willkommen auf dem Spielplatz der Natur. Wir setzen zur nächsten Punktlandung an.

Mitten im Fricktal
«Schau dir diese Aussicht an. Das ist so schön, ich muss gleich weinen.» Kollektive Erheiterung. Es ist der Wind, der Bettina erbarmungslos entgegenpeitscht und ihr Tränen ins Gesicht treibt. Von diesen kleinen Turbulenzen lassen sich die zwei Frauen aber so schnell nicht aus der Ruhe bringen. Auf ihrem Rundflug durch Schupfart zeichnen sie das Bild einer Gemeinde mit Platz an der Sonne. Und auch die Prognose für die nahe Zukunft ist heiter. «Vorläufig möchte ich hier bleiben», sagt Rahel: «Eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, das Fricktal überhaupt je zu verlassen.» Die Familie. Freunde. Hobbys. «Hier ist mein Mittelpunkt», sagt Bettina, ausgerechnet jetzt, an diesem besonderen Ort. Wir sitzen auf dem Bänkchen neben dem Gedenkstein mit Tafel, Gebiet Eichbüel: geografischer Mittelpunkt des Fricktals. Ob mit Tränen oder ohne – der weite Blick übers Land, er lässt nachvollziehen, weshalb der Schupfarter sein Schupfart so mag.

«Von hier kann man den Flugplatz sehen», sagt Bettina. Dort, auf der anderen Seite des Dorfes, werden wir unsere Reise beschliessen. Dabei landen wir direkt neben dem Flugfeld bei einem Kaffee im Restaurant Airpick. Und noch einmal ist der Damenturnverein präsent. «Dort auf der Landepiste trainieren wir jeweils für die Pendelstafette», sagt Bettina und schiebt zur allgemeinen Beruhigung nach: «Natürlich nur, wenn kein Flugbetrieb herrscht.» Die kerzengerade Rasenstrecke biete für die Übungseinheiten den perfekten Untergrund und es scheint, als wäre dieses Schupfart mit seinen Menschen ein geeigneter Nährboden für eine funktionierende Gemeinschaft. Ein freundliches Hallo oder ein Hoi, wenn man im Dorf unterwegs ist, das sei hier oben die Regel und nicht die Ausnahme.

Und so endet dieses Treffen an einem besonders stürmischen Samstagmorgen mit einer erfrischenden Erkenntnis: Hier im Dorf weht noch ein anderer Wind. Oder vielmehr: ein guter Geist. Er wird von Generation zu Generation weitergetragen. Hier in diesem kleinen und von Hügeln umgebenen Dörfchen, wo weiss Gott nicht täglich der Bär steppt, sondern vielmehr sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Doch genau das, so dünkt es, behagt gerade auch vielen jungen Menschen hier. Der kreisende Milan über den Köpfen von Bettina und Rahel scheint wie bestellt. «Der Grillplatz hier auf dem Schönenbüel ist auch so ein schöner Flecken im Freien.» In diesem Moment dreht der prächtige Raubvogel ab, setzt zum spektakulären Sturzflug an und verschwindet hinter den Bäumen. Willkommen zuhause. Auf dem Spielplatz der Natur.

 

Rahel Steinacher absolvierte das KV, derzeit arbeitet sie in Basel als Kundenberaterin einer Bank. Bettina Hochstrasser schloss ebenfalls eine Kaufmännische Lehre ab, sie ist Sachbearbeiterin beim Kanton Aargau.


Nächster Halt: Unterdorf

Als Rahel Steinacher und Bettina Hochstrasser in Mumpf die Oberstufe besuchten, machten sich die beiden auf eigene Faust stark für einen Postauto-Halt im Unterdorf. «Wir gingen von Haus zu Haus und sammelten Unterschriften für unser Anliegen.»

Und tatsächlich. Vorbei waren die Zeiten, als die beiden Schülerinnen auf dem Rückweg von Obermumpf herkommend zuerst am eigenen Zuhause vorbeifuhren, an der Haltestelle oben im Dorf aussteigen und dann zehn Minuten zu Fuss wieder in die andere Richtung zurück gehen mussten. Die Haltestelle hat sich längst etabliert. Man weiss sich zu helfen in Schupfart. Frau auch. (rw)

 


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