«Es lebe die Demokratie… in gesetzlichen Bahnen»
24.11.2018 FricktalEssay zum Projekt Kriegsnachrichten (Oktober bis Dezember 1918 im Spiegel der Fricktaler Presse)
In Berlin amtete der friedensbereite Max von Baden als Reichskanzler. Und akzeptierte Präsident Woodrow Wilsons 14 Punkte. Zu spät. Die Volksstimme (24.10.) titelte: «Der Zusammenbruch des alten Deutschland». Den Ton gaben nun die USA an. Dem entsprach der Tenor der Einladung des freisinnig-demokratischen Vereins Rheinfelden für einen Vortrag über die USA (Volksstimme, 3.10.): «Von hoher Wichtigkeit für die Schweiz ist gegenwärtig die Freundschaft der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Von ihrem guten Willen hängt zum guten Teil unsere Existenz ab.» Im Innern stand in der Schweiz die Ablösung des Majorzsystems für die Nationalratswahlen durch den Proporz an. Die Volksstimme empfahl Ablehnung der Vorlage, welche jedoch am 13. Oktober 1918 angenommen wurde. Wien suchte in Washington und in Rom um einen Waffenstillstand nach. Der kroatische Sabor, das Parlament, nahm Kurs auf die Errichtung eines südslawischen Staates zusammen mit Serben und Slowenen. Deutschlands und Österreich-Ungarns Auflösung zeigte die Neue Rheinfelder Zeitung (2.11.): «Friede vor der Tür! … Staaten vergehen, … Staaten entstehen. … in … 24 Stunden … Waffenstillstand zwischen der Türkei und der Entente … Der italienische Vormarsch in Venetien dauert an … Im deutsch-österreichischen Nationalrat hat über ein Drittel der Mitglieder den Antrag eingebracht, Deutsch-Österreich … an Deutschland anzuschliessen. …. Englische und amerikanische Truppen sind in Laibach … angekommen; in Fiume sind italienische Truppen gelandet. … In Budapest ist die Revolution ausgebrochen. … Graf Stefan Tisza, der ehemalige Ministerpräsident, wurde das Opfer eines Attentats.»
Das Leben ging seinen Gang: Die Neue Rheinfelder Zeitung (5.11.) widmete sich in einer Vorschau der dritten Basler Mustermesse. Leichtere Töne fehlten, bei allem Ernst, nicht:
«Kaiser Karl von Österreich will abdanken und seinen Aufenthalt in die Schweiz verlegen! Willi, Georg und Viktor Emanuel kommen nach?»
Abwegig war der Gedanke an Revolutionen keineswegs. Am 9. November wusste die Volksstimme über Bayern zu berichten: «In München ist … von einem Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat die demokratische und sozialistische Republik Bayern proklamiert worden. … Eine … Massenkundgebung wurde auf der Theresienwiese veranstaltet, in der eine Resolution angenommen wurde, welche die sofortige Abdankung des deutschen Kaisers … verlangt, ferner Ausschaltung aller Reaktionäre...»
Die Volksstimme zitierte einen Aufruf der Geschäftsleitung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz: «Schon rötet die nahende Revolution den Himmel über Zentraleuropa; der erlösende Brand wird das ganze morsche blutdurchtränkte Gebäude der kapitalistischen Welt erfassen. … Indem das Proletariat aller Länder das Banner der sozialen Revolution erhebt, wird es nicht nur die russische Arbeiterrevolution von den ihr drohenden Gefahren retten – es wird seine eigenen Fesseln abstreifen.»
Kommentar:
«Wir hören die drohenden ungesetzlichen Forderungen… Fest entschlossen, die Ruhe und Ordnung in der Schweiz aufrecht zu erhalten, hat der Bundesrat die notwendigen militärischen Massnahmen getroffen. … Die schweizerischen Bolschewisten sind gewarnt. Möge ihr politisches Musikgehör die … Sprache der Bundesbehörden verstehen. Das schweizerische Volk … billigt sie; die Soldaten werden ihre Pflicht erfüllen.»
Kritisch reagierte das Blatt auf verfassungswidrige Begehren («ungesäumte Umbildung der bestehenden Landesregierung … Sofortige Neuwahl des Nationalrates…»). Die Volksstimme schrieb am 12. November: «… das darf jetzt schon gesagt werden: der von den roten Parteipäpsten mutwillig vom Zaun gerissene Landesstreik ist eine absurde Provokation des ganzen Schweizervolkes …»
Die Zeitung informierte gleichzeitig über den Waffenstillstand zwischen Deutschland und der Entente. In derselben Ausgabe schilderte die Zeitung die Wirkung der Abdankung Kaiser Wilhelms II auf das Pariser Publikum: «Die Nachricht wurde … mit Stürmen des Beifalls begrüsst. ... Die Menge glaubt sich nicht zu täuschen in dem Eindruck, dass die Abdankung Wilhelms II das Ende einer Weltanschauung bedeutet, die zum Untergehen bestimmt war ...»
Hierzulande führte ein Ultimatum des Bundesrates an die Streikleitung zum Streik-Ende. Die Volksstimme (16.11.) reagierte mit Erleichterung: «Der Versuch …, noch rasch vor Torschluss in der Schweiz eine revolutionäre Bewegung nach russischem Muster herbeizuführen, ist abgeschlagen worden; …» Das Wort Bundespräsident Felix Calonders gab den Ton: «Der Alpdruck ist gewichen. Die schweizerische Demokratie erhebt frei und stolz ihr Haupt.» Die Neue Rheinfelder Zeitung titelte am selben 16. November: «Der Landesstreik gottlob missglückt.» Dieses Blatt veröffentlichte auch (23.11.) den Aufruf zu einer patriotischen Tagung im Amphitheater von Vindonissa. Die Volksstimme (26.11.) hielt Rückschau auf die von 12 000 Teilnehmern besuchte Kundgebung. Dabei kam der «Vertreter des Fricktals, Herr Lehrer Jegge in Eiken» zu Wort: «… einig und geschlossen wie ein Mann steht das ganze Fricktalervolk … zu seinen Behörden in Kanton und Eidgenossenschaft. … Wir an der Landesmark können täglich die zurückflutenden Massen eines geschlagenen Heeres jenseits des Rheines beobachten; … Es lebe die Demokratie in gesetzlichen Bahnen!»
Die Grippe, welche zwischen Juli 1918 und Juni 1919 in der Schweiz mehr als 24 000 Todesopfer forderte, dauerte an. Gelegentlich scheint auf, was das an menschlichen Tragödien bedeutete, so am 26. November in der Volksstimme: «Rheinfelden. Aus Langenthal (Kt. Bern) kommt die Trauerkunde von dem Hinscheiden des Herrn Hans Böhm, des ältesten Sohnes der Familie Böhm-Kläfiger. Er ist als ein Opfer der Grippe im Alter von erst 27 Jahren am letzten Sonntag im Militärspital in Spiez gestorben. Seit dem Tode des Vaters war er seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern eine … Stütze. Als Korporal … opferte er sein Leben für das Vaterland. Die Umstürzler haben auch den Tod dieses jungen Mannes auf dem Gewissen.»
Mittlerweile waren, wie die Volksstimme (28.11.) meldete, die Italiener in Innsbruck eingerückt. Anteilnahme spricht aus den Berichten über die Verhältnisse bei unseren Nachbarn im Osten: «Noch vor kurzem ein … Grossstaat und heute ein wüster Ruinenhaufen. … Heute, da die armen, unglücklichen und ausgehungerten Krieger der zerfallenen Donaumonarchie in wilder Unordnung und Auflösung von der Front ins Hinterland zurückfluten, ist kein Herz so versteinert, als dass es nicht das Elend dieser Unglücklichen mitfühlen würde.»
Die Redaktoren waren Zeugen ungeheurer Umwälzungen. Am Heiligen Abend 1918 war in der Volksstimme zu lesen: «Wir haben Grosses erlebt ... Wir haben zwei mächtige, auf innere und äussere Kraft aufgebaute Kaiserreiche zusammenstürzen sehen…. nicht vor der Kraft der gegnerischen Heere …, sondern vor dem … Geiste des ewigen Friedens, der Völkerverbrüderung, der Gerechtigkeit, der Freiheit. Diesem Geiste… hielten auf die Dauer deutsche Kraft und Ausdauer nicht stand.»
Es wäre aber ein Fehler, am Ende des Jahres 1918 Optimismus zu orten. Die jahrelangen Entbehrungen forderten auch mental ihren Tribut. Die Volksstimme (31.12.) verabschiedete sich vom zu Ende gehenden Jahr mit eindrücklichen Worten: «Vielleicht, dass einst unsere Enkel, rückschauend auf das Jahr 1918, unsere Zeit als eine … bedeutsame Periode der Weltgeschichte einschätzen werden. Wir aber, die wir mitten drin stehen in dieser Periode, wir fühlen nur deren schweren Druck, die Entbehrungen, die Seuchen, unser ganzes Unvermögen, die geträumte bessere Zeit zu verwirklichen. …
Die Neujahrsglocken von 1919 klingen über so viel Kriegsgräbern, über so viel Opfern der Gewalt und Brutalität, über so viel Trümmern und so viel Hungrigen, dass sie doch endlich einmal das Ohr der Weltvernunft erreichen dürften. ... Gott wolle es!»
Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit
Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal» und der «Neuen Rheinfelder Zeitung» aus den Jahren 1914 bis 1918 im Internet für jedermann zugänglich (die NFZ berichtete). Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Mit dem Ende des 1. Weltkrieges im November 1918 endet mit diesem Beitrag auch die Serie Kriegsnachrichten.
Jürg Stüssi-Lauterburg, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Militärhistoriker. Er wohnt in Windisch. (nfz)