Wenn Reden Gold ist
24.12.2024 BrennpunktGedanken zu Weihnachten von Walter Herzog
Irène fühlt eine tiefe Einsamkeit. Sie möchte mit einer Person reden, die ihr ein offenes Ohr schenkt. Einsamkeit im Alter kommt immer häufiger vor. Was soll sie tun?
Kurt hat Suizidabsichten und fühlt sich von seinem Umfeld nicht verstanden. Er ist verzweifelt. Er möchte seine Gedanken mitteilen und ernst genommen werden. An wen kann er sich wenden?
Simon kämpft schon lange mit Depressionen. Er fürchtet, nie mehr ein normales Leben führen zu können. Er möchte seine Sorgen und Ängste in einem Gespräch mitteilen. Wer hört zu?
Lisa kämpft mit der Bewältigung ihres Alltags. Sie fühlt sich in ihrer anstrengenden Aufgabe zwischen Kochen, Putzen, Kindern und der Arbeit überfordert. Um ihre Gedanken zu ordnen, möchte sie ein ausführliches Mail schreiben. An wen soll sie schreiben?
Sabrina ist daran, sich auf die Präsentation ihrer Maturarbeit vorzubereiten. Sie kämpft mit der Angst vor dem Scheitern und sucht Sicherheit in einem Chat. Welcher Chat kann helfen? Dies sind fünf Geschichten aus dem alltäglichen Leben. Sie stehen repräsentativ für unzählige weitere Lebenssituationen, in denen wir an unsere Grenzen stossen und Unterstützung suchen. Doch an wen sollen wir uns wenden? Wem können wir vertrauen und wer nimmt sich Zeit, zuzuhören?
Die gute Nachricht: Es gibt sie, diese Menschen. Es gibt sie in der Familie und im Freundeskreis. Wer sie jedoch dort nicht antrifft, findet sie auch ganz woanders. Aber wo denn?
Aufruf zum Anruf
Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die psychischen Probleme der Menschen weltweit an. Pater Chad Varah gründete daraufhin 1950 in London die erste Telefonseelsorge als Antwort und Hilfestellung. Sein Zeitungsinserat mit dem Aufruf «Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie an», stiess auf grosses Interesse und hatte viele Anrufe zur Folge. Sechs Jahre später übernahmen in der Schweiz Pfarrer Kurt Scheitlin, Unternehmer Fred Pestalozzi und Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler diese wunderbare Idee für die Schweiz. Sie sorgten für Startkapital, Räumlichkeiten und Personal für die erste Schweizer Telefonseelsorgestelle in Zürich. Diese verzeichnete bereits in der ersten Nacht 37 Anrufe von hilfesuchenden Menschen. 1960 entstand unter dem Namen «Die Dargebotene Hand» der Dachverband dieser Institution. Ein ganz wichtiger Schritt wurde 1976 erreicht. Mit der Verankerung der konfessionellen Unabhängigkeit wurden die Voraussetzungen geschaffen, um eine dreistellige Notrufnummer zu erhalten. Die Telefonnummer 143 war geboren!
Der vereinfachte Zugang und die damit verbundene öffentliche Anerkennung führten dazu, dass sich die Anrufzahlen von Jahr zu Jahr erhöhten. Im letzten Jahr wurden sage und schreibe 194 646 Telefongespräche geführt. Die Dargebotene Hand ist heute die bekannteste Anlaufstelle für emotionale Erste Hilfe in der Schweiz. Die Institution ist als Verein organisiert. Rund 700 sorgfältig geschulte freiwillige Mitarbeitende stehen per Telefon, Chat oder Mail Menschen in Not als Gesprächspartner zur Verfügung. Drei Viertel der Freiwilligen sind Frauen, ein Viertel Männer. Bei den meisten Gesprächen geht es um die psychische Gesundheit. Bei jedem zwanzigsten Telefonat steht Suizidalität im Vordergrund. Dieses Thema hat seit der Pandemie deutlich zugenommen.
Das Angebot von 143 ist auf Menschen in der Schweiz und in Liechtenstein ausgerichtet. Alle Anliegen haben Platz: von kleinen Alltagssorgen, Beziehungsproblemen, Einsamkeit, Suchtverhalten, Gewalt und Suizidgedanken bis zu körperlichen Beschwerden.
Also auch die Einsamkeit von Irène, die Suizidgedanken von Kurt, die Depression von Simon, die Sorgen von Lisa und die Prüfungsangst von Sabrina. Die Personen am anderen Ende der Leitung sind vertrauenswürdige und bestens geschulte Menschen. Sie hören zu und versuchen zu helfen, aus persönlicher Überzeugung und freiwillig. Sie haben sich intensiv darauf vorbereitet und wurden befähigt, Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen zu begleiten. Die Ausbildung beinhaltet mitfühlendes Zuhören und Gesprächsführung sowie Lernen des Umgangs mit den Themen Suizidalität, Depression, psychische Krankheitsbilder, Verluste, Sterben, Sucht und Gewalt. Die Gespräche bleiben anonym. Es ist eine grossartige Dienstleistung, welche die über 700 Freiwilligen rund um die Uhr erbringen.
Und ein äusserst wertvolles Angebot für viele Mitmenschen, die sich gerade auch zur Weihnachtszeit einsam fühlen. Jeder Mann und jede Frau, auch Jugendliche und Kinder, können anrufen, mailen oder chatten. Denn ein offenes Ohr finden, gerade in schwierigen Situationen, ist enorm wichtig. Ein bekanntes Sprichwort besagt «Reden ist Silber, Schweigen ist Gold». Doch bei dringenden Anliegen wie bei Irène, Kurt, Simon, Lisa und Sabrina kann ein Gespräch mit einem Vertrauten oder ein Anruf auf die Nummer 143 hilfreicher sein. Dann ist Reden Gold.
Hilfe bei Sorgen und Problemen: Freunde, Familienangehörige, Bekannte, Nachbarn oder Tel. 143 anrufen. www.143.ch. Da dieses wertvolle Angebot «143» finanziell vom Bund nicht unterstützt wird, erfolgt die Finanzierung durch private Spenden und Beiträge von Stiftungen, Kirchen, Gemeinden sowie aus kantonalen Leistungsverträgen.