Voller Scham – oder unverschämt

  15.08.2024 Gesundheit

In unserer westlichen Kultur ist vieles, ja scheinbar fast alles erlaubt. Wie kommt es, dass Scham dennoch ein hoher Stellenwert zukommt?

Schamgefühle sind etwas Urmenschliches und von grosser Bedeutung. Sie sagen: «So kann und will ich mich nicht zeigen.» Betroffene verstecken sich und ziehen sich zurück; andere Menschen werden dadurch indirekt aufgefordert wegzuschauen. Häufig beziehen sich Schamgefühle auf Aussehen, eigene Eigenschaften oder Bedürfnisse. Schamgefühle schützen damit Eigenes, Intimes gegen unerwünschten Einblick oder Übergriffe, und sie helfen, eigenen Werten und Idealen nachzustreben, wobei dabei kulturelle und soziale Aspekte stark mitwirken. Demgegenüber drücken Schuldgefühle aus: «Das habe ich falsch gemacht.» Betroffene sind dadurch belastet, freudlos, gehemmt; andere Menschen werden indirekt aufgefordert zu verurteilen oder zu strafen. Schuldgefühle beziehen sich auf Handlungen und unterstützen das Einhalten von Verhaltensnormen.

Scham ist auch in der Medizin, in Psychiatrie und Psychotherapie zentral: Scham erschwert Früherfassung und -behandlung von Krankheiten, indem Betroffene unangenehme krankhafte Symptome verstecken oder bagatellisieren und sich erst verspätet zu Abklärungen und in Behandlung begeben. Übertriebene Scham kann Krankheiten sogar verursachen: Beispielsweise ziehen sich soziale Phobiker aus Angst, sich zu zeigen, immer mehr aus Kontakten zurück, vermeiden solche oder isolieren sich, oder Patientinnen mit Essstörungen kämpfen gegen eigene körperliche Bedürfnisse wie Hungergefühle. Aber auch «unverschämte» Schamlosigkeit kann krankhaft sein und beispielsweise bei gewissen Persönlichkeitsstörungen zu Problemen in Beziehungen und mit der Umgebung führen.

Doch eben: Warum kommen Schamkrankheiten heute häufiger vor? Dass Menschen heute in unserer westlichen Welt individuell mehr Freiheiten beanspruchen können als früher, wird meist als Befreiung und Chance erlebt. Es hat aber auch eine Kehrseite: Es erhöht den Druck auf das Individuum, Eigenes zu schaffen, eine eigene Identität, eigene Werte und Ideale, einen eigenen befriedigenden Lebensweg zu finden und erfolgreich zu sein, und damit verbundene Schwierigkeiten werden individualisiert, Eigenem zugeschrieben. Der früher ausgeprägte externe normative Druck durch enge gesellschaftliche Vorschriften wird heute zunehmend durch überhöhte eigene Ideale und Ansprüche abgelöst; das Individuum leidet weniger an Schuldgefühlen und Ängsten vor Strafe als an Versagensund Schamgefühlen.

Behandlungen helfen Menschen, aus schambedingtem Rückzug herauszutreten, sich wahrzunehmen, wie sie sind, sich vom Druck überhöhter Selbstansprüche und Ideale zu befreien, sich zu finden, zu sich zu stehen und ihren eigenen Weg zu gehen. Auf dem Boden einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung können so Krankheitssymptome überwunden, persönliche Entwicklungen ermöglicht und Beziehungsschwierigkeiten überwunden werden. Dies fördert Selbstentfaltung, Selbst-Bescheidung und -Akzeptanz wie Gesundheit und Lebensqualität.

«Scham» steht im Zentrum der diesjährigen Reihe «Flying Science» mit 4 Vorträgen im Park des Hotels Eden (bzw. bei schlechtem Wetter im Hotel Schützen), jeweils um 19 Uhr (Eintritt frei, Referat 30 Min., anschliessend Apéro). Am Montag, 19. August 2024 vertieft Dr. med. Hanspeter Flury unter dem Titel «Voller Scham – oder unverschämt?» die oben angespielten medizinischen und psychotherapeutischen Aspekte, auch anhand von Fallbeispielen. Am Montag, 26. August 2024 referieren Marco Aiello und Claudia Lorenz, ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) Soziale Arbeit, über «Armut und Scham – Zur Dynamik von Scham im Kontext sozialer Ungleichheit». Am Montag, 2. September 2024, beleuchtet Prof. Dr. David Chiavacci, Asien-Orient-Institut Universität Zürich, das Thema «Japan als Schamkultur». Am Montag, 9. September 2024, spricht Dorothee Wilhelm, Theologin und Psychotherapeutin, Dübendorf, über das Thema «Der Teufelskreis der Scham».


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