Und ich nenne dich beim Namen

  23.12.2024 Tradition

Er trug seinen Pyjama und eine Regenjacke. Die kleinen Füsse in gelben Gummistiefeln, stand er frierend im Eingang.

Die Mutter war beinahe umgekommen vor Sorge. Ihre Stimme bebte. «Lieber Gott, wo warst du?» Dann drückte sie den Kleinen fest an sich. Sie weinte vor Erleichterung.

Am anderen Morgen fand man den Schachspieler tot im Park. Die Arme waren um einen Teddybären gelegt. Als hätte er sich bis zum letzten Atemzug daran festgeklammert. In der Tasche seines schäbigen Mantels war ein kleiner Zettel. Darauf stand die Adresse des Jungen.

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Oft hatten sie darum gebeten, ja, gar eindringlich geboten hatten sie es ihrem Jungen: «niemals!» Obschon der Schulweg dadurch kürzer wäre: «Du darfst auf keinen Fall durch den Park gehen.» Wie viele teilten nicht dieselbe Sorge? Vorbei an diesen traurigen Gestalten, an all den Halbwilden, Gescheiterten und Verrückten, deren Namen keiner kannte. «Hast du das verstanden? Nicht durch den Park!»

In den Worten der Eltern lag Bedrohliches.

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Das kurze Aufschreien war laut und deutlich. Es gehörte einer Kinderstimme. Seelenruhig stellte er den Springer wieder dorthin zurück, von wo er ihn gerade angehoben hatte. Dann drehte er den Kopf in die Richtung, aus der das Schreien kam: «Artus, lass das!»

Er hatte wieder mal nicht auf seine Eltern gehört und war durch den verbotenen Park gegangen. Eine hagere Gestalt im Mantel setzte nun langsam einen Fuss vor den anderen, bis sie schliesslich stoppte und sich in voller Grösse vor ihm auf baute. Der Junge erschrak, wie er von unten in diese traurigen Augen blickte, die direkt auf ihn gerichtet waren.

«Du musst entschuldigen», sagte jetzt eine Stimme. «Artus war einfach nicht da, als der liebe Gott das gute Benehmen verteilte.» Der Alte fuhr dem Hund durchs Fell. «Verrätst du mir deinen Namen?»

Niemals mit Fremden sprechen, hatten ihm die Eltern befohlen. Von Hunden war keine Rede. Der Junge lächelte und sagte dann: «Hallo Artus. Ich bin Lukas.»

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Sie hatten sich so sehr ein Kind gewünscht. Und als es endlich soweit war, gaben sie sich ein Versprechen. Vor jeglichem Unrecht wollten sie ihren kleinen Engel bewahren, jetzt und für alle Ewigkeit. Doch gibt es da draussen verschiedene Menschen. Nicht alle spielen nach den Regeln für eine bessere Welt.

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In der Schule hatten sie ihn wieder gehänselt. Den Eltern brach es jedes Mal das Herz. Ihr Kummer liess sie argwöhnisch werden.

Ausgerechnet jetzt aber strahlte der Junge übers ganze Gesicht. Zum allerersten Mal an diesem Tag. Der Hund hatte beinahe ein paar Schachfiguren seines alten Herrn umgeworfen, als er den Kleinen sah. Er kam direkt auf ihn zu gerannt und sprang an ihm hoch.

«Reicht es denn nicht, dass du schon dauernd meine Türme zu Fall bringst?» Er müsse es ja mittlerweile nicht mehr erklären, sagte der Alte nun an den Jungen gerichtet, und Lukas verkündete stolz: «Ich weiss. Artus war nicht da, als der liebe Gott das gute Benehmen verteilte.»

Die Tränen aber waren noch nicht getrocknet. Er solle zuhause lieber den Spiegel abhängen, sagten die anderen Schüler. Sonst müssten die Eltern sein Gesicht darin auch noch anschauen.

Vorsichtig strich er dem Kleinen eine Strähne aus der Stirn. Die Narbe, nicht riesig, war jetzt deutlich zu sehen. «Willst du wissen, weshalb ich ihn Artus nenne?»

Ein kurzes Nicken.

Dann nahm der Alte einen Bauern und stellte ihn direkt neben den König.

«Aufs gleiche Feld? Ich glaube, das geht nicht», sagte Lukas zögerlich.

Der alte Mann darauf mit einem Lächeln: «Dann ändern wir zwei jetzt die Spielregeln. Willkommen zur Tafelrunde, mein edler Ritter.»

Fortsetzung am Dienstag in der NFZ


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