Regine Roth macht Sachen

  09.11.2024 Persönlich, Möhlin

Zahlreichen Kindern machte sie Mut. Nach einem komplizierten Unfall verliert sie ihren eigenen nicht: Regine Roth, 78, will jungen Menschen bald wieder die Angst vorm Lesen und Schreiben nehmen.

Ronny Wittenwiler

Der Sensenmann sass ihr im Nacken, genaugenommen im zweiten Halswirbel. Doch Regine Roth sprang dem Tod gleich mehrmals von der Schippe, wie die Ärzte ihr später bestätigen sollten. Dabei stand für diese Zeitung zunächst eine Frage im Vordergrund, wie man sie für eine «Homestory» oft zu stellen pflegt: Was macht eigentlich Regine Roth? Etwas erschrocken muss man jetzt feststellen: Also die Roth macht noch Sachen. Und alles bloss wegen ein bisschen Salami.

Kolossale Fehleinschätzung
Es ist ruhiger geworden um Regine Roth aus Möhlin. Mit 78 braucht sie den grossen Tanz auf verschiedenen Hochzeiten nicht mehr. Vieles war sie: Primarlehrerin, Legasthenie-Therapeutin, Gemeinderatskandidatin, Grossrätin für die SP. Über jeden einzelnen Abschnitt gibt es ein Füllhorn an Anekdoten, die sie jeweils oft mit einer ihr eigenen humorvolltrockenen Art einzuleiten weiss. «Ich wollte ja gar nie in den Grossen Rat, das war ein Unglück», sagt sie zum Beispiel. Doch obschon es Regine Roth längst deutlich gemächlicher nimmt: Ganz so ruhig wie in den letzten Wochen hätte es dann doch nicht werden sollen. Die Ärzte wollten es so. Eine andere Wahl hatte sie sowieso nicht.

Im August stürzt Regine Roth zuhause auf der Terrasse, kopfvoran. Sie blutet, sofort denkt sie: «Jetzt habe ich mir die Nase gebrochen.» Was für eine kolossale Fehleinschätzung! Das Ereignis bringt ihre Pläne durcheinander. Denn eines tut sie noch immer: Regine Roth bringt Kindern und Jugendlichen das Lesen bei, sie nimmt ihnen die Angst vorm Schreiben.

Kurze Reise in die Vergangenheit.

25. April 1966
Vor über 58 Jahren übernimmt Regine Roth als blutjunge Primarlehrerin im Möhliner Schulhaus Fuchsrain eine dritte Klasse mit fast fünfzig Mädchen und Buben. Später lässt sie sich zur Legasthenie-Therapeutin ausbilden. In einer Zeit, in der Betroffene mit Lese- und Schreibschwächen noch bemitleidet, im schlimmsten Fall gar belächelt werden, wird Roth zu einer Art Pionierin auf diesem Gebiet. Das gelbe Schulhaus Fuchsrain bleibt Roths zweites Daheim, an der Wand im Schulzimmer hängen jahrelang die Portraits «ihrer» Kinder. Belächelt?

Bemitleidet? Viele von ihnen gehen bemerkenswerte Wege, einige führen später mit Erfolg gar ihr eigenes Unternehmen, das sind keine Räubergeschichten, die man sich erzählt, sondern Tatsachen. Wie Regine Roth daran denkt, huscht ihr ein Lächeln übers Gesicht. Die Schmerzen werden jeden Tag etwas kleiner. Es war nicht die Nase.

«Hätte auch sterben können»
Beim Sturz, nach einem Stolperer, bricht sich Regine Roth das Genick. Der zweite Halswirbel ist durchtrennt, ohne dass sie es wirklich realisiert. Als sie drei Tage später wegen der Schmerzen zum Arzt geht, fällt der aus allen Wolken, sie aber auch. Als Beifahrerin im Auto. Beim Hüten der Enkelkinder. Beim Einkaufen. «Ich hätte in diesen drei Tagen auch sterben können, sagte man mir. Offenbar hatte ich mehrere Schutzengel.» Die Operation dauert über fünf Stunden. Chirurgen verschrauben die drei obersten Halswirbel miteinander. Schmerztabletten sind ein Begleiter, und als es Wochen später zum Treffen mit der NFZ kommt, macht allein das Zuhören weh. Jetzt bitte gute Nachrichten zur Ablenkung.

Sie macht weiter
«Wenn das Kind heimgeht und dann am Abend voller Stolz dem Papi vorliest.» Sowas hat Roth zuhauf erlebt.

Oder auch das: «Der Älteste war sechzig. An einem Gründonnerstag schrieb er mir aus den Ferien: Er habe dank meiner Hilfe zum ersten Mal in seinem Leben ein ganzes Buch gelesen.» Es gebe nicht immer Wunder, sagt zwar ausgerechnet jene Frau mit der Halskrause, die den Tod im Nacken sitzen hatte – «aber Leseschwäche kann man in Ordnung bringen». Kurz vor ihrem Unfall betreute sie eine Viertklässlerin. «Am Schluss hat sie gelesen wie eine Weltmeisterin.» Die Pionierin macht weiter. Sich ausbremsen lassen? Vielleicht vorübergehend. Die Halskrause? Muss sie tragen mindestens bis Ende November. Je wieder Autofahren? «Halb so wild. Ich kann auch ins Dorf spazieren.»

Der Unfall lief so ab: «Ich hatte Lust auf Salami. Auf der Schwelle zum Garten mit dem Teller in der Hand bin ich gestolpert und kopfvoran im Rasen gelandet. Alles wegen fünf Rädli Salami!» Ob sie irgendwelche Lehren daraus zieht? Sie überlegt kurz. «Ich habe es eine Zeitlang versucht, aber nein.» Keinen Salami essen hilft da ja auch nicht. «Ich hab’ mir wieder einen gekauft.» Regine Roth macht Sachen.

Bald möchte sie Kindern wieder beim Lesen helfen.


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