«Ich habe es ja immer gesagt!»

  09.07.2024 Möhlin, Fussball

England, Pommes mit Ketchup, und dann liegt auch noch der beste Experte der Welt falsch. Ein Spielbericht zum EM-Viertelfinale.

Ronny Wittenwiler

Ich sitze draussen im proppenvollen Festzelt meiner Stammbeiz und weiss ganz genau, wie wir die Engländer knacken. Doch meine Expertise als einer von rund neun Millionen Nati-Trainern in diesem Land spare ich mir auf für Spielschluss. Notfalls kann ich dann immer noch ungefragt allen erzählen, wie man es besser hätte machen müssen.

Die Nationalhymne ertönt, als einer von wenigen hier stehe ich auf. Und hol mir noch ein Bier. Schon beim Spaziergang ins Dorf an diesem Morgen merke ich: Es liegt etwas in der Luft. Wahrscheinlich verarbeiten sie in der Industrie gerade wieder Kohl. Aber das alles ist jetzt so weit weg wie das 2:0 gegen Italien. Und jetzt kommt England. Der Schiri trifft einen ersten richtigen Entscheid. Er pfeift das Spiel an. Samstag, 6. Juli 2024, 18 Uhr.

Mein bester Freund
Dabei beginnt diese Geschichte hier schon vor achtzehn Jahren. Denn so wie heute der eine oder andere sagen kann: Ich war in Deutschland dabei – so darf ich das von mir genauso behaupten: Ja, auch ich war in Deutschland dabei. WM 2006, Köln, Achtelfinale, Schweiz-Ukraine; stand hinter dem Tor und musste mitansehen, wie es nach 120 grausamen Minuten ins Penaltyschiessen geht und Marco Streller mit seiner Zunge spielt. Er verschiesst seinen Elfmeter, genauso Barnetta, genauso Cabanas – Ende, aus, vorbei. Aber hey: Ich war dabei.

Als vor einem Monat mein bester Freund anruft und meint, er hätte Tickets für alle drei Gruppenspiele der Schweiz, sagt er das so: «Chunnsch mit? Weisch, wiä damals an de WM 2006.» Das Grausame daran ist, der meint das todernst. Ganz ehrlich: wiä damals? Und wäre es auch nur zehn Prozent so wie damals im Hochsommer 2006, ich bräuchte heute eine Regenerationszeit bis Frühherbst. Bier besteht heute vor allem aus dreiviertel Citro, doch geblieben ist die Liebe zum Spiel – und mein rotweisses Nati-Leibchen von damals. «Wittenwiler 80». Ich sah wirklich gut aus darin.

Alain Sutter spricht mit mir
England kommt einigermassen passabel in dieses Spiel, besser zumindest als in allen vier Partien zuvor, mehr aber auch nicht. Das Mutterland des Fussballs scheint vom Gezeigten her noch immer seine Stiefkinder auf dem Rasen zu haben. In diesem Sinne: weiter so!

Als ich an diesem historischen Supersamstag «Wittenwiler 80» im Keller aus dem Kleiderschrank – unterste Schublade! – hervorhole, macht das Textil einen zerknitterten Eindruck. «Das riecht aber streng», findet Krümel, der mich zum Spiel begleitet. Dort, es läuft längst die zweite Halbzeit, sagt einer, den ich nicht mal kenne, gekleidet in ein altes Nati-Trikot («Sutter»), ich käme ja daher wie auf einer Beerdigung. Ich trage mitten in diesem rotweissen Menschengemenge tatsächlich ein schwarzes Shirt, zeige aber auf «Wittenwiler 80» ausgebreitet auf dem Tisch als Glücksbringer: «Mein altes Trikot ist etwas muffig, das kann ich nicht mehr anziehen.» Murat Yakin hat seine Taktik. Ich habe meine. Die Rechnung geht voll auf bis jetzt, für uns beide. Und dann kommt Embo…Toooor! Für Krümel und mich gibt es jetzt kein Halten mehr, wir recken die Hände in die Höhe und bestellen Pommes.

Als sie serviert werden, steht es 1:1 und Krümel kann es kaum fassen: Er will doch immer Mayo dazu. Nicht Ketchup.

Der Tipp meines Lebens
Ich meine, es schon mal erwähnt zu haben: Ich weiss, wie wir diese Engländer knacken. Viererkette, Dreierkette, alles Kokolores. Es ist der Glaube an die eigene Möglichkeit, das Unmögliche zu schaffen. Verlängerung. Auf dem Platz spielt sich ein Drama ab, Shaqiris direkt getretene Ecke küsst das Lattenkreuz (117. Minute), es wäre ein Tor für alle Ewigkeit und die Schweizer Geschichtsbücher der Geometrie gewesen. Doch dann ist auch diese Verlängerung zu Ende. Und jetzt kommt’s: Meine Damen und Herren, genauso knackt man die Engländer, denn nichts verabscheuen die Engländer mehr als ein Elfmeterschiessen. Noch fünf, vielleicht zehn Minuten, und dann stehen wir im Halbfinale und ich erklimme den Fussballexperten-Olymp. 1:1 nach Verlängerung, die Schweiz gewinnt im Penaltyschiessen – es ist der Tipp meines Lebens und den Titel für diese Geschichte hier habe ich mir lange vor dem Spiel zurechtgelegt, ich geb’s zu, auch als Kampfansage gegen alle polyvalenten Berufspessimisten in diesem Land: «Halbfinale! Ich habe es ja immer gesagt.»

Eine letzte Analyse
Etwas wehmütig halte ich «Wittenwiler 80» in meinen Händen. Dann lege ich das Textil sanft zurück in die Schublade des Kleiderschranks im Keller, eine klitzekleine Träne kullert mir über die Wange. Die Wahrheit nämlich ist: Ich passe seit Jahren nicht mehr in dieses Trikot. Aber immerhin haben wir noch genügend Mayo im Kühlschrank. Alles ist gut.

Danke für alles, Schweizer Nati. Und gute Nacht.


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