Vom Westen nichts Neues

  15.08.2022 Brennpunkt

Mit dem Widerstand der Ukraine hat Putin nicht gerechnet, doch auf unsere Ignoranz konnte er zählen. Eine persönliche Rückschau auf Osteuropas beschwerlichen Weg zur Freiheit.

Peter Haffner*

X: Niederlagen
Selbst renommierte Persönlichkeiten sind nicht gefeit gegen Misstritte den Osten betreffend, wie ich das in der Jahrtausendwende erlebte, als ich eine Fellowship am Internationalen Journalisten-Kolleg der Freien Universität Berlin hatte. Wir waren fünfzehn Personen, die eine Hälfte aus dem Osten, die andere aus dem Westen. Man war frei, an dem eingereichten Projekt zu arbeiten und Studienfächer zu belegen; Pf licht war die Teilnahme an den Diskussionen, zu denen prominente Gäste eingeladen wurden. Richard von Weizsäcker kam, dessen Vater als Staatssekretär im Auswärtigen Amt nach dem Krieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt worden war. Zum 40. Jahrestag des Kriegsende und Zusammenbruchs der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, hatte Weizsäcker 1985 als Bundespräsident eine Rede gehalten, die in die Geschichte einging. Erstmals wurde der Tag des 8. Mai in Deutschland als Tag der Befreiung und nicht der Niederlage begangen. Weizsäcker, ein stattlicher Herr mit einnehmender Ausstrahlung, sorgte für eine lebhafte Diskussion, bis die Kolleginnen aus Slowenien, Ungarn und Bulgarien wissen wollten, weshalb Deutschland so reserviert sei ihren osteuropäischen Ländern gegenüber. Richard von Weizsäcker widersprach, erzählte von seinen Staatsbesuchen im Osten und scherzte, wie er sich immer erst eine Litanei über das schlimme Russland habe anhören müssen. Damit war er unten durch bei den drei Frauen, die von seinen Verdiensten kaum etwas wussten.

XI: Dreimal Revolution
Die Ukraine ist eine «verspätete Nation», ihre Nationalbewegung ein Widerhall der Bewegungen Europas, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die ständischen Gesellschaften und ethnischen Gruppen zu Nationen formten, mit dem Anspruch auf Souveränität. Im Gefolge des Ersten Weltkrieges und der Revolution in Russland zerfielen die drei Vielvölkerimperien Osteuropas, das Russische, das Habsburgische und das Osmanische Reich. Den Ukrainern gelang es nicht wie anderen, die Chance zu nutzen. Während Tschechen, Polen, Litauer, Esten und Letten Nationalstaaten gründeten, fanden sie sich nach kurzlebigen Versuchen wieder unter der Knute fremder Mächte; der Sowjetunion im Osten, Polens, Rumäniens und der Tschechoslowakei im Westen. Seit dem Fall der Mauer hat die Ukraine drei Revolutionen durchlaufen. Bei der ersten von 1989 bis 1991 ging es um die nationale Unabhängigkeit, aber nicht um die Demokratie. Bei der zweiten, der «orangen» von 2004, ging es um die demokratische Wahl einer neuen Führung, aber nicht um das korrumpierte System. In der dritten, dem Euromaidan von 2014, ging es aussenpolitisch um die Abkehr von Russland hin zu Europa und innenpolitisch um die Reformierung des Systems von Regierung und Gesellschaft.

In jenem Euromaidan 2014 wurde die neue Ukraine geboren. Als die Studenten gegen Janukowitschs Weigerung, das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, protestierten und brutal zusammengeprügelt wurden, kamen die Veteranen des Afghanistankrieges, um ihre Kinder zu verteidigen. Schliesslich waren Jung und Alt auf dem Maidan, aus Stadt und Land, Angehörige jeder Ethnie, Religion, Klasse und Kultur. Ethnische Russen standen auf der Bühne, prominente Juden stellten sich ins Rampenlicht, Schwule und Lesben betrieben eine Hotline für Menschen in Not, junge Feministinnen bewachten die Spitäler, um zu verhindern, dass die Verwundeten von Schergen des Regimes entführt wurden.

Der langjährige, von Erfolg gekrönte Freiheitskampf der Polen war für die Ukrainer der Ansporn, nicht aufzugeben. Doch während ihre Nachbarn mit der Gewerkschaft Solidarnosc ein geeintes Volk waren, war das in der Ukraine bisher nicht der Fall. Nun, da mit Wolodimir Selenski und seinem Stab das Land eine Führung hat, hinter der die Mehrheit des Volkes steht, könnte sich das ändern. Der jetzige Krieg wird eine wiederum neue Ukraine gebären; erringt sie den Sieg über Russland und gelingt die Annäherung an die EU, darf man hoffen, dass das Land geeinter, demokratischer und weniger von Korruption und Oligarchie geprägt sein wird.

XII: Wo Europa endet
Auf meiner Reise durch die Ukraine während des Euromaidan 2014 hatte ich in Nowi Petriwzi, einem ruhigen Vorort im Norden von Kyjiw, Janukowitschs Residenz besichtigt, das «Sultanat Meschihiria». Heerscharen erkundeten das Grundstück mit dem Wohnhaus, das aussieht wie ein Chalet, das sich am Buckingham Palace verschluckt hat. Die Besucher waren weniger empört als amüsiert über den Monumentalkitsch eines Parvenüs, für den nicht nur Geschmack eine Frage des Geldes war. Fünfzehn Euro pro Tag und Teilnehmer habe sich das Regime Kundgebungen zu seinen Gunsten kosten lassen, hat Kateryna mir gesagt, als wir über Putins Schützling sprachen.

Wo Europa endet, ist eine viel diskutierte Frage. Samuel Huntington hat in seinem Bestseller «Kampf der Kulturen» die Trennlinie zwischen West und Ost in der Ukraine entlang des Sbrutsch gezogen, der einstigen Grenze von Österreich-Ungarn und dem zaristischen Russland. Der Fluss scheidet den protestantisch-katholischen Westen vom byzantinisch-russischen Osten; für den amerikanischen Politikwissenschaftler zwei Welten, wie einst für die Griechen die Trennung am Bosporus von Zivilisation und Barbarei. Zumindest was die Brutalität des jetzigen Krieges angeht, trifft Letzteres zu. Kriege ohne Kriegsverbrechen gibt es nicht; Gefangene werden erschossen, Frauen vergewaltigt, Zivilisten getötet und nichtmilitärische Objekte zerstört. Die Bombardierung deutscher Städte durch die Alliierten in Europa und der Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sind Kriegsverbrechen. Während in diesen Fällen die Eskalierung des Krieges dazu geführt hat, sind jedoch in den Kriegen der Russen in Tschetschenien, Georgien, Syrien und jetzt in der Ukraine die Kriegsverbrechen von Anfang an nicht die Ausnahme, sondern die Regel: Die militärischen Ziele sind Spitäler, Schulen und Wohnhäuser. Ich hatte 2014, als wir in dem schönen Café sassen und Kateryna sagte, Putin werde es nicht bei der Besetzung der Krim lassen, ihre Bedenken zu zerstreuen versucht und gemeint, Russland könne nicht mehr schalten und walten wie einst die Sowjetunion; eine Besetzung des ganzen Landes würde der Westen nicht zulassen. Die offizielle Einverleibung der Krim war mir dann die Lektion, dass ich trotz langer Aufenthalte in Osteuropa immer noch der naive Westler gewesen bin. Als kurz danach Separatisten im Donbass zwei «Volksrepubliken» ausriefen und der Krieg im Land begann, wusste ich, dass Kateryna recht gehabt hat. Und dass Putin sich mit diesen Beutestücken nicht begnügen würde.

Wer keinen Schutzengel hat, ist nicht gut dran. Mir kommt dieser Tage immer wieder in den Sinn, was ich diesbezüglich auf meiner Reise entlang der deutsch-polnischen Grenze erlebt hatte. In Zittau, im Dreiländereck, war ich an einer Feier der deutschen Bundeswehr. Zwischen den Türmen der St. Johanniskirche hing ein Transparent: «Völkerfreundschaft statt Waffenbrüderschaft. Freunde brauchen keine Waffen.»

Ein junger Mann drückte mir ein Flugblatt in die Hand gegen das «Gelöbnix». Es forderte die Auflösung der Nato, deren Osterweiterung «gegen den Widerstand Russlands besiegelt» worden sei, und rief auf, das «unwürdige militärische Spektakel zu stören». Als die Soldaten auf den Platz marschierten, Deutsche, Polen und Tschechen, ging ein Konzert mit Trillerpfeifen und Nebelhörnern los. Die ältere Dame vor mir, die ihren Schirm im Takt der Blasmusik hatte tanzen lassen, war aufgebracht. «Was machen Sie denn, wozu sind Sie denn da?», fauchte sie einen Heerespolizisten an. «Nichts», entgegnete der ruhig. «Rein rechtlich können wir nichts machen.» Der Bürgermeister hielt eine Rede zur Würdigung des historischen Ereignisses, der Vereidigung von Bundeswehrsoldaten im Beisein von Soldaten der Nachbarländer, die einst von der Wehrmacht überfallen worden waren. Die Zittauer Christen entfalteten ein Spruchband «Schwerter zu Pf lugscharen oder Rüstungsmilliarden für sozialen Frieden» und versammelten sich in der Kirche zum «Friedensgebet». Gerne würde ich wissen, ob die Demonstranten von damals heute froh sind, dass es die Nato noch immer gibt und die Polizei sie schützt und nicht ins Gefängnis wirft, wenn sie friedlich protestieren.

Wie schon die Polen, verteidigen heute die Ukrainer den Anstand; die Würde eines Lebens, das nicht auf der Lüge gründet, einen frei entscheiden lässt und nicht unter die Geissel eines Tyrannen stellt. Regimegegner, die gefoltert wurden, seien von ihren Peinigern immer wieder gefragt worden, von wem sie bezahlt würden, hat Kateryna mir gesagt.

Irena, die Dame in Warschau, hätte sich mit Kateryna gut verstanden. Als sie die Neunzig überschritt und an Körperkraft verlor, engagierte sie eine Haushälterin aus der Ukraine, die ihre Freundin wurde. Sie erzählte immer mehr von früher, dem Film «Der letzte Tag des Sommers» ihres Bruders und Kameramannes Janek, in dem sie die Hauptrolle gespielt hatte; das Werk wurde 1958 mit dem Goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnet. Nie einem Cognac abgeneigt und Kettenraucherin, genoss sie die Komplimente und den Handkuss und verabschiedete mich nie, ohne auf kleingewachsene Männer im Allgemeinen und Putin im Besonderen zu schimpfen und mir zu gratulieren für etwas, was nicht mein Verdienst war. Sie starb 2019 im Winter, vierundneunzig Jahre jung. Sie, die ihre reaktionäre Regierung verabscheute, hätte stolz auf ihr Land sein dürfen, das Millionen von Flüchtlingen aus der Ukraine aufnimmt, Waffen und Hilfsgüter über die Grenze bringt, der Not gehorchend und bereit, zu handeln ohne langes Gerede  – eine Stärke, die Ukrainer und Polen aufgrund ihrer Geschichte eigen ist wie niemandem in Westeuropa.

(Dieser Beitrag wurde erstmals im «Das Magazin» No 28/2022 von Tamedia publiziert.)


Peter Haffner*

Peter Haffner (1953) ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller. Er absolvierte ein Studium der Philosophie und Geschichte an der Universität Zürich. Anschliessend arbeitete er als freier Journalist für Schweizer, deutsche und österreichische Zeitungen und von 1991 bis 2002 als Redakteur des Monatsmagazins NZZ Folio der Neuen Zürcher Zeitung. Haffner war bis 2014 Korrespondent der Wochenendbeilage «Das Magazin» des Zürcher Tages-Anzeigers in Kalifornien. Er hat als Journalist, Essayist und Buchautor viele Jahre in Amerika, Polen und Deutschland gelebt und gearbeitet. Für seine literarischen Reportagen wurde er unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Peter Haffner lebt heute als freier Autor in Berlin und Zürich.

p.haffner@gmx.com


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