Vom Westen nichts Neues

  09.08.2022 Brennpunkt

Gastbeitrag zur Entwicklung in Europa, Osteuropa, der Ukraine und der Freiheit (Teil 3 von 5)

Mit dem Widerstand der Ukraine hat Putin nicht gerechnet, doch auf unsere Ignoranz konnte er zählen. Eine persönliche Rückschau auf Osteuropas beschwerlichen Weg zur Freiheit.

V: Lenin-Strasse
Kateryna, die Historikerin in Kyjiw, hatte mir auf meiner Reise 2014 den Kontakt zu einer Russin auf der Krim vermittelt. Ich traf sie in Sewastopol in einer Kantine, wo wir ukrainischen Borschtsch löffelten. Olga, eine lebhafte Frau in ihren Sechzigern, war viel herumgekommen. Sie arbeitete auf einem Kreuzfahrtschiff, machte Stadtführungen, organisierte Konzerte und Vorträge. Aus Irkutsk in Sibirien stammend, lebte sie seit vierzig Jahren auf der Krim.

Sie hatte sich die «grünen Männchen» angesehen, die Panzer, die vor der Stadt aufgefahren waren, die Armee ohne Kennzeichen, die der Kreml nicht geschickt haben wollte. Als sie ihren Verwandten in Russland via Skype davon berichtete, glaubten diese ihr nicht. Sie fuhr nach Kyjiw, um zu prüfen, ob wirklich Nationalisten, Faschisten und Antisemiten die Macht übernommen hätten, wie die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti berichtete, die den Boxer und Oppositionspolitiker Witali Klitschko Schwuchtel titulierte, behauptete, die Schweden praktizierten Sex vom Alter von neun Jahren an und die Europäische Union sei ein Verein von Päderasten. «Selbst meine Schwester und mein Bruder glaubten mir nicht, was ich gesehen hatte; dass dies nicht wahr war. Sie glauben, was Putin sagt.»

Von der Krim war ich weiter nach Luhansk gereist. Zwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, liess die Stadt nicht das Gefühl auf kommen, in Europa zu sein wie in Lwiw, dem galizischen Lemberg, das zum Habsburgerreich gehört hatte und aussieht wie eine Miniaturausgabe von Wien mit seinem Kopfsteinpflaster, den verspielten Cafés und einladenden Geschäften. In der Lenin-Strasse trieb ein wüster Wind Staub in die Augen, das Café Chillout war mit Spanplatten vernagelt, auf der mit leeren Wodkaf laschen übersäten Böschung lag ein Hundekadaver. Der Gründer der Sowjetunion, der in Kyjiw gestürzt worden war, stand hier noch auf dem Sockel und sah über alles hinweg in ein Jenseits, das nicht zum Paradies auf Erden hatte werden wollen. Panzer thronten auf massigen Sockeln, in der Kneipe hingen Kalaschnikows an der Wand, und in der Bar flimmerten auf Flachbildschirmen Endlosschleifen mit sich um rassige Autos räkelnden halbnackten Frauen. Ein gedrungener Mann in schwarzer Bomberjacke, der meinen Weg kreuzte, zeigte mir die Faust und schrie «Russland, Russland!». Doch auch jetzt, wo russische Truppen im Land stehen, will die grosse Mehrheit weder im Osten noch im Süden «heim ins Reich» von Russland. Die Jugend weiss, dass ihre Zukunft nicht in einem von Moskau abhängigen Armenhaus liegt, in dem sie keine Chance haben, aus ihrem Leben etwas zu machen.

In Kyjiw war seit der Orangen Revolution von 2004 der Maidan Brutstätte und Experimentierfeld einer direkten Demokratie. Das Michaelskloster hatte ein Lazarett eingerichtet, ein Gastrounternehmer in seinen Restaurants die Aktivisten gratis verköstigt, ein McDonald’s-Manager seine Filiale der Zentrale für den psychologischen Dienst und das Technikzentrum zur Verfügung gestellt. Frauen im Pelzmantel hatten beim Barrikadenbau zugegriffen, greise Mütterchen waren mit nichts als einem Apfel, einer Zwiebel oder einer Kanne heissen Tees gekommen. «Es war wie ein Ameisenhaufen», hat Kateryna gesagt, persönlich bewegt wie als Historikerin fasziniert von der Weise, in der es anfing. «Alles lief durcheinander, aber irgendwie gezielt, eine spontane Selbstorganisation, die funktionierte.»

In den dramatischen Tagen des Euromaidan 2014, die ich in der Stadt verbrachte, herrschte Kriegsstimmung. Überall standen Barrikaden aus Fässern und Brettern, abgebrannte Gebäude gähnten mit leeren Fenstern, der Gestank geschmolzener Reifen hing in der Luft. Militante Selbstverteidiger vom «Prawyi Sektor» trugen Kampfanzüge, einen Knüppel am Gurt und sammelten Geld für Waffen. Auf der endlos langen Rolltreppe aus dem Untergrund der U-Bahn-Haltestelle «Maidan» skandierten Gruppen hinauffahrender junger Männer «Ruhm der Ukraine!», worauf Herunterfahrende antworteten mit «Tod den Feinden!».

VI: Die Mauer fällt
Wie man sich täuschen kann über die Zukunft einer Zeitenwende, erlebte ich, als ich Anfang Oktober 1989 den Auftrag hatte, den deutschen Historiker Sebastian Haffner für ein Interview über die politische Lage Europas anzufragen. Damals, vor dem Internet, ging das per Schneckenpost. Er schrieb zurück, sagte zu, gab mir seine Telefonnummer und schlug als Termin den 9. November vor. Ich dankte, legte auf und sass drei Wochen später im Flugzeug nach Berlin, als der Pilot über das Mikrofon informierte, die Mauer sei gefallen. Als ich in der dunklen, grossen Berliner Wohnung den Gelehrten antraf, sass er vor dem Fernseher. Seine Haushälterin servierte Kaffee und Gebäck, während die Nachrichten Massen von Menschen um und auf der Mauer zeigten, die jubelten, einander umarmten und mit Meisseln Souvenirs aus dem Beton hämmerten. Zur Zukunft Deutschlands gefragt, meinte der Gastgeber, es werde wohl bei zwei Staaten bleiben; nun, da die Ostdeutschen die Freiheit hätten, ins Ausland zu reisen. Er würde eine Wiedervereinigung nicht begrüssen, sagte er, weil Deutschland zu gross sei für Europa und das Gleichgewicht der Mächte erneut gestört würde. Sein Argument leuchtete mir ein, und ich blieb skeptisch, als ich mich durch die lärmenden Volksmassen drängte nach Ostberlin zum Brandenburger Tor, dem manche sich zögernd näherten, als erwarteten sie, niedergeschossen zu werden und aus ihrem Traum zu erwachen.

VII: Das beste Jahr
Es hat mich immer erstaunt, dass die Revolution von 1989, die Rückkehr des «gekidnappten Westens», wie Milan Kundera es nannte, in der Schweiz – im Unterschied zu Deutschland und einem Grossteil der Welt – oft mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen wurde.

Adolf Muschg, der Star der Schweizer Intelligenzija, bedauerte in einer Talkshow mit dem deutschen Historiker Michael Stürmer, dass es nun keine Alternative mehr gebe zum westlichen Kapitalismus. Sich richtig freuen über die wiedererlangte Freiheit von Abermillionen von Menschen konnte er nicht, und die Hartnäckigkeit von Stürmer, der die angeblich positiven Bilanzposten des realen Sozialismus mit einer Kanonade von Fakten zertrümmerte, besserte Muschgs Stimmung nicht. In meinem Bekanntenkreis war es nicht viel anders. Bewegt waren wenige, Bedenken hatten viele. Noch Jahre nach der Revolution wurde ich misstrauisch gefragt, ob es den Polen, den Ungarn oder den Tschechen denn jetzt etwa besser gehe. Dass die Osteuropäer in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben wollten wie sie, die Bedenkenträger, war ihnen suspekt. Sie nahmen nicht wahr, dass die «Samtene Revolution» in ihrer Bedeutung der Französischen von 1789 nicht nachsteht; dass 1989 nicht nur ein Jahrhundertjahr, sondern eines der besten in der Geschichte Europas überhaupt ist. Das Europa der siebenundzwanzig Länder der EU ist das friedfertigste seit Menschengedenken; die Jugoslawienkriege von 1991 bis 2001 sind ein Mahnmal an frühere Zeiten, der jetzige Krieg in der Ukraine die Lektion, dass friedfertig zu sein nicht heisst, keine Feinde zu haben. Dessen ist sich die politische Linke wie die politische Rechte kaum bewusst gewesen. Nun haben viele Linke eine Kehrtwende vollzogen, schämen sich für ihren Irrtum, leugnen ihn oder treten auf, als wären sie schon immer auf der richtigen Seite gestanden.

Der deutsche Psychologe, ein Achtundsechziger, der einst alte Zöpfe abschneiden wollte und den Rossschwanz noch immer trägt, schalt die Nato aggressiv und Amerika das «Reich der Blöden»; nun schweigt er und sucht das Thema zu vermeiden um des Friedens willen. Der schweizerische Berufskollege, der sich nicht hervortat mit Plädoyers für eine starke Armee, die Nato und Amerika, feiert jetzt überschwänglich den Kampfesmut der Ukrainer, als seien sie eine lokale Fussballmannschaft, die in die Bundesliga aufsteigt. Nur die dänische Philosophin war bestürzt auch darüber, selber naiv und gutgläubig gewesen zu sein und weitergelebt zu haben, als wäre nichts passiert zuvor in Tschetschenien, Georgien, der Krim und dem Donbass.

Manche Rechte nehmen noch heute Putin in Schutz, verherrlichen ihn gar und verharmlosen oder leugnen, was in der Ukraine passiert und zigtausendfach dokumentiert ist. Fake-News-Junkies, die kein Sachargument kurieren wird, sind sie eine Minorität, die auf die westliche Russlandpolitik im Gegensatz zur Linken kaum Einfluss hatte.

Als der KGB, dessen Offizier Putin war, im Moskauer Putsch vom August 1991 Gorbatschow zu stürzen versuchte, erklärte das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit; neunzig Prozent votierten in der Volksabstimmung dafür. Noch im selben Monat wurde die UdSSR aufgelöst, und das letzte koloniale Imperium der Welt war Geschichte.

Putin, der 1989 in Dresden mit der Vernichtung von sowjetischen Codebüchern im Garten der KGB-Filiale seine «dunkelste Stunde» erlebte, erklärte diese Befreiung zur «grössten geopolitischen Katastrophe des Jahrhunderts». Doch was Putin fürchtet, ist weder die Nato noch Amerika oder den Westen generell, sondern die Geburt einer neuen Demokratie in der unmittelbaren Nachbarschaft, die sein Volk ermutigen könnte, endlich aufzustehen. Die Ukraine ist nicht nur der Phantomschmerz Russlands, wie Kateryna gesagt hat, sie ist auch die Zeitbombe, die der Herrscher im Kreml entschärfen muss, will er an der Macht bleiben.

Bis anhin hatte die Schweiz mit Deutschland gemeinsam, dass beide Staaten kein Konzept von einem Feind haben. Deutschland wollte sich aufgrund seiner Gewalttaten gegen angebliche Feinde jedweder Art mit seinem «Nie wieder Krieg» von jedem Waffengang dispensieren; die Schweiz, in der seit über hundertsiebzig Jahren Frieden herrscht, hat keinen Feind und blieb selbst in den zwei Weltkriegen unversehrt. Dass beide Staaten, ohne die geforderte Gegenleistung zu entrichten, unter dem Schutzschirm der Amerikaner stehen, haben die meisten erst wahrgenommen, seit es in der Nachbarschaft Raketen regnet. Beide verstehen sich auch nicht auf Geopolitik. Das tun nur die Briten, die Amerikaner, die Chinesen und einzelne weitere. Die Unterschiede springen ins Auge in der Frage, wie man reagieren soll, wenn Putin mit Nuklearraketen droht. Führt die Drohung dazu, zurückzukrebsen mit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukrainer, hat nicht nur Putin gewonnen. Mit ihm lernen die Autokraten rund um die Welt, dass der Westen schwach ist, sich erpressen lässt und einen selber stärker macht. Der Rüstungswettlauf hat bereits begonnen, das Risiko atomarer Katastrophen nimmt zu. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass eine der grössten geopolitischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts von der Schweiz aus eingeleitet wurde. Die russische Oktoberrevolution, Lenins Putsch – eine Zeitenwende – hat ihre Wiege in der Zürcher Spiegelgasse 14, in jener Wohnung Lenins, neben der achtzig Jahre zuvor Georg Büchner gelebt hatte, der in «Dantons Tod» seherisch mit dem Fluch auch dieses gewalttätigen Umsturzes abrechnete.

(Fortsetzung in der nächsten Ausgabe der NFZ)


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