Vom Westen nichts Neues
29.07.2022 GesundheitGastbeitrag zur Entwicklung in Europa, Osteuropa, der Ukraine und den Feinden der Freiheit (Teil 1)
«Mit dem Widerstand der Ukraine hat Putin nicht gerechnet, doch auf unsere Ignoranz konnte er zählen. Eine persönliche Rückschau auf Osteuropas beschwerlichen Weg zur Freiheit.»
I: Kleiner Grenzverkehr
Irena hatte mich vom Flughafen abgeholt. Achtzigjährig hatte sie hinter dem Steuer ihres Opel Corsa gesessen und war durch den Stadtverkehr von Warschau gerast, ein Fläschchen Cognac in der Linken, das sie wiederholt zu einem Schluck ansetzte. «Eben habe ich den Keller aufgeräumt», sagte sie. «Und weisst du, was mir in die Hände fiel? Eine Flasche Putzmittel von Johnson, mit einem kleinen Rest drin.»
«Was du nicht sagst», sagte ich, mich am Türgriff festklammernd. «Diese Flasche hat mir 1983, zur Zeit des Kriegszustandes, eine Freundin aus dem Westen mitgebracht. Damit habe ich die Badewanne geputzt und darauf geachtet, so wenig wie möglich zu verbrauchen. Mit unseren Mitteln kriegtest du ja nichts sauber.»
Die Ampel stand auf Rot, Irena steckte sich eine Zigarette an. «Über Jahre habe ich eine Flasche Badewannenputzmittel wie ein Heiligtum behandelt. Wie weit kann ein Regime einen Menschen bringen, dass er beginnt, ein Putzmittel zu verehren? Ist das nicht der Gipfel der Entwürdigung?»
Es war zur Zeit der Orangen Revolution in der Ukraine, und Irena fieberte mit, dass die Bürger, wie sie in Polen 1989, das Joch der Russen abschütteln werden. Der Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen 2004 war der Auslöser zum Protest von Millionen auf dem Maidan. Im Donbass hatte die Wahlbeteiligung über hundert Prozent betragen; das Stimmvieh des Ministerpräsidenten Wiktor Janukowitsch war in Bussen von einem Wahllokal zum anderen gekarrt worden, mit «Keksen», in Russland gefälschten Wahlzetteln.
Immer wieder ist die Ukraine mit Polen verglichen worden, dem Nachbarland, das an der Spitze der Freiheitsbewegung von 1989 stand. Nur von den Polen fühlen sich die Ukrainer verstanden, was bemerkenswert ist angesichts der einst blutigen Kämpfe zwischen den beiden Völkern. Ein Blick auf die Geschichte der Mittelmacht Deutschland im Westen und ihr Pendant Polen im Osten erhellt, weshalb Putin die Ukraine angegriffen hat.
Als ich mich Mitte der Neunzigerjahre auf eine Reise entlang der deutsch-polnischen Grenze machte, waren meine Polnischkenntnisse nicht überragend, doch ich fragte nicht mehr jemanden auf der Strasse: «Wo bitte gehts zum Mond?», wenn ich zum Bahnhof wollte, weil ich ksiezyc mit dworzec verwechselte. Auch der entgeisterte Blick des Zimmermädchens im Hotel, als ich hatte wissen wollen, wo ich meine Kirche waschen könne, gehörte der Erinnerung an; jetzt wusste ich koszula für «Hemd» von kosciol für «Kirche» zu unterscheiden. Ich reiste mit leichtem Gepäck, einen «Elbsegler» auf dem Kopf, die deutsche Mütze, die Unkundige mit der sogenannten Helmut-Schmidt-Mütze verwechseln. In Polen riefen mir die Kinder «Helmut!» zu, so dass ich in Zgorzelec bei einem Mützenmacher eine weisse Leinenmütze kaufte, sie aufsetzte und aus dem Laden trat – wo Kinder auf dem Gehsteig hockten, mit Kreidestein «Himmel und Hölle» malten und mich fröhlich grüssten: «Helmut!» Der kleine Grenzverkehr florierte.
Auf der polnischen Seite schossen Basare, Kneipen und Friseursalons aus dem Boden. Miederwaren und Gartenzwerge, Zippo-Feuerzeuge mit Hakenkreuz und Anstecknadeln mit SS-Runen lagen auf den Tischen neben CDs von Rassistenbands wie den «Zillertaler Türkenjägern» und «Sieg Heil Viktoria». Die Köpfe von grimmigen Landsern mit Kinnladen zum Zerbeissen von Stahl zierten die Covers der Alben; frei erhältlich in dem Land, in dem ebensolche Landser gemordet und gebrandschatzt hatten, soviel sie nur konnten. Am Ufer der Oder warteten Kolonnen von Taxis auf Kunden für Bordelle mit Namen wie «Pigalle» oder «Moulin Rouge»; die Frauen stammten aus der Ukraine. Ich hatte das Karl-Liebknecht-Gymnasium in Frankfurt an der Oder besucht; die erste Schule, die Schüler aus Polen aufnahm. Jenen Ausdruck von Neugier und Überdruss im Gesicht, den Siebzehnjährige so unnachahmlich drauf haben, war die Klasse freudig überrascht, als ich sie auf Polnisch begrüsste. Die Begegnung mit Deutschland, sagten die Schülerinnen, sei ein Schock gewesen. «Die Deutschen wollten nicht mit uns sprechen, und wir wollten alle wieder weg!», sagte Agnieszka, die Wortführerin. «Nie kommen sie auf einen zu, man ist selten bei ihnen zu Hause eingeladen – bei uns in Polen wäre das anders!» Ihre beste Freundin sei Deutsche, sagte sie, doch das Gefühl, nicht willkommen zu sein, sei geblieben. «Wenn ich in einem Laden Polnisch rede, schaut die Verkäuferin auf meine Hände, als wäre ich gekommen, um zu klauen.» Auf der deutschen Seite des Flusses war wenig los. Den Hutwerken in Guben, einem Traditionsunternehmen, stand wie vielen Firmen der einstigen DDR das Wasser am Hals. Eine Geldsammlung war im Sand verlaufen, Investoren waren nicht in Sicht.
Ich kaufte mir, um nicht mehr «Helmut » gerufen zu werden, einen Hut aus Kaninchenhaar, eines der letzten Stücke im Regal. Er machte sich bezahlt – kaum war ich über der Brücke in Polen, rief ein Junge, der sich an einer Hausecke mit Kumpeln im Rauchen übte: «Hey, Indiana Jones!»
II. Fürchtet Euch nicht
So ganz falsch war das nicht. Polen war ein Land der Abenteuer, eine Terra incognita für Westler, in der es kaum Touristen gab. Es war in dieser Zeit, als ich und meine damalige Frau, eine Polin, bei einem befreundeten Schweizer Paar eingeladen waren. Der Abend war abwechslungsreich, mittendrin erbrach sich ihr Kleinkind über dem Esstisch was dem anregenden Gespräch keinen Abbruch tat. Sie wollten wissen, wie es uns in Polen so geht, und er, ein Historiker, war peinlich berührt, als seine Frau, ebenfalls mit Hochschulabschluss, bekannte, sie wisse nicht, wo Polen liege und an welche Länder es grenze. Bis heute sind der Westen und Osten Europas getrennt, nicht zuletzt aufgrund der Zeitenwende von 1968. Für den Westen ist es das Jahr der Studentenrevolte, der Befreiung vom Mief der Sechzigerjahre, dem Protest gegen den Vietnamkrieg, der freien Liebe und der Frauenemanzipation. Für den Osten steht dasselbe Jahr für russische Panzer in Prag, die Niederschlagung des Prager Frühlings, der Reformen von Alexander Dubcek, des Generalsekretärs der tschechoslowakischen Kommunisten, der das Volk hinter sich hatte. Wer im Westen in Freiheit lebt, hat keine Vorstellung davon, was es heisst, Feinde zu haben. Die Furcht vor den Russen ist nicht nur uns Schweizern so fremd, dass Putins Angriffskrieg wie ein Blitz aus heiterem Himmel eingeschlagen hat.
Als ich im Sommer 1993 einen Sprachkurs an der Uni Krakau absolvierte, dämmerte mir, wie wenig sich Westler um die Erfahrungen der Völker des Ostens scheren. In der Klasse waren junge Frauen und Männer aus dem Baltikum und der Ukraine; ein österreichischer Student, ein deutscher Banker und ich waren die Einzigen aus dem Westen. «Schindlers Liste», der in Krakau gedrehte Film von Steven Spielberg, war eben ins Kino gekommen. Als Janina, die Konversationslehrerin, fragte, was wir davon halten würden, streckte ich als Einziger auf, da niemand sonst ihn gesehen hatte. Ich radebrechte auf Polnisch, ich fände ihn gut, weil er zeige, dass jemand Widerstand leistet und die viel beschworene Ohnmacht widerlegt, man hätte gegen die Nazis ja nichts tun können. Janina, eine schüchterne Person, lief rot an und stiess hervor, ihr gefalle der Film nicht, es sei immer dasselbe, wenn es um Polen gehe, Juden und Deutsche und sonst nichts und niemand. Ich dachte, da ist er jetzt, der polnische Antisemitismus. Als ich sie hernach besuchte zur wöchentlichen Privatstunde, kam sie auf das Thema zurück. Ihr Mann war Jude, von Beruf Psychiater, und sie beide engagierten sich seit Jahren, Spuren der jüdischen Kultur in Krakau zu suchen und den Einwohnern bewusst zu machen, was verloren gegangen war mit der Auslöschung der einstigen Mitbürger. Ihr Zorn hatte weniger mit Spielbergs Film zu tun als mit der Tatsache, dass das Leid und die Opfer der Polen im Krieg niemanden interessierten.
Kaum einer meiner deutschen Freunde ist je in Polen gewesen, eine Zugstunde von Berlin entfernt. Diejenigen, die es waren, empörten sich gern über den polnischen Patriotismus und die Macht der katholischen Kirche. Dass ein Volk, dessen adlige Frauen hundertfünfundzwanzig Jahre nur Schwarz getragen haben zur Trauer, dass es Polen nicht mehr gab, nachdem Russland, Preussen und Österreich das Land unter sich aufgeteilt hatten, nahmen sie – gebildet aber geschichtsvergessen – nicht wahr. Ebenso nicht, dass es damals und später während der kommunistischen Diktatur die katholische Kirche gewesen ist, die die Fackel der Freiheit hochgehalten hat. Während sich die westliche Elite der Linken mit der Teilung Europas arrangiert hatte, mochten sich der polnische Papst Johannes Paul II. und der amerikanische Präsident Ronald Reagan nicht damit abfinden. Sie unterstützten den Führer der Opposition Lech Walesa, die engagierten Intellektuellen und die streikenden Arbeiter tatkräftig in ihren Befreiungskampf mit eingeschmuggelten Schreibmaschinen, Fotokopierern und Druckern. Als der Papst auf seiner Pilgerreise 1979 vor Millionen von Polen predigte, war sein erster Satz: «Fürchtet euch nicht.» Es war der Aufruf zum zivilen Ungehorsam, der Auftakt zur Gründung der illegalen Gewerkschaft Solidarnosc, die innert zwei Wochen zehn Millionen Mitglieder zählte, die der Herrschaft der Kommunisten ein Ende setzen wollten, unbeeindruckt vom drohenden Einmarsch der Russen. Am 13. Dezember 1981 wurde der Kriegszustand über das Land verhängt, zehntausend Gewerkschaftsmitglieder wurden interniert, Hunderte des Verrats, der Subversion und der Konterrevolution angeklagt. Es war der Papst, der seinen Landsleuten Mut machte durchzuhalten, den Skandal der Unfreiheit nicht hinzunehmen und Gut und Böse beim Namen zu nennen.
Die Polen haben gewusst, was das «Reich des Bösen» ist, von dem Ronald Reagan redete, der im selben Jahr ins Weisse Haus gewählt worden war. Was Reagan am 12. Juni 1987 in Berlin vor dem Brandenburger Tor sagte, wurde im Osten mit Begeisterung und im Westen mit Bestürzung aufgenommen: «Herr Gorbatschow, reissen Sie diese Mauer nieder!» Er beliess es nicht dabei, sondern setzte sich mit dem russischen Amtskollegen zusammen, dem er vertraute, im Gegensatz zu seinen engsten Beratern wie Dick Cheney; Gorbatschows Reformkurs von «Glasnost» und «Perestroika», erkannte Reagan, war kein Täuschungsmanöver.
Nicht nur Laien sind geschichtsvergessen. Es spricht Bände, dass es bis 1996 kein Werk eines bedeutenden westlichen Historikers gab, der eine Geschichte Europas unter Einschluss des Ostens vorgelegt hätte. Europäische Geschichte befasste sich bis dahin mit dem vertrauten, fortschrittlichen Westeuropa und blendete den «rückschrittlichen» Osten aus. Mit seinem Monumentalwerk «Europe. A History» hat der britische Historiker Norman Davies Neuland betreten und erstmals den ganzen Kontinent in den Blick genommen. Wie die Lektüre von Büchern Wissen verschafft, dank dem man die Welt aus einer neuen Perspektive sieht, sieht man nach Reisen in fremde Länder die eigene Heimat mit neuen Augen. Garantiert ist dies selbst bei den reisefreudigen Schweizern nicht, die es für selbstverständlich halten, in Freiheit in einem Rechtsstaat zu leben, und dabei ignorieren, wie krass der Unterschied ist zur Willkürherrschaft anderswo.
Die Fortsetzung dieses Gastbeitrags folgt in der NFZ-Ausgabe vom Mittwoch, 3. August.
Peter Haffner*
Peter Haffner (1953) ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller. Er absolvierte ein Studium der Philosophie und Geschichte an der Universität Zürich. Anschliessend arbeitete er als freier Journalist für Schweizer, deutsche und österreichische Zeitungen und von 1991 bis 2002 als Redakteur des Monatsmagazins NZZ Folio der Neuen Zürcher Zeitung. Haffner war bis 2014 Korrespondent der Wochenendbeilage «Das Magazin» des Zürcher Tages-Anzeigers in Kalifornien. Er hat als Journalist, Essayist und Buchautor viele Jahre in Amerika, Polen und Deutschland gelebt und gearbeitet. Für seine literarischen Reportagen wurde er unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Peter Haffner lebt heute als freier Autor in Berlin und Zürich.
p.haffner@gmx.com