«Wenn jeder nur für sich schaut, gibt es kein Ganzes»

  09.11.2019 Wirtschaft

Wie entwickelt sich das Fricktal in Zukunft? Das hängt auch stark von den raumplanerischen Vorgaben ab. Oliver Tschudin ist ein Fachmann auf diesem Gebiet. Der ehemalige Rheinfelder Stadtrat erklärt im Interview, was es aus seiner Sicht braucht für eine positive Entwicklung der Bezirke Laufenburg und Rheinfelden.

Valentin Zumsteg

NFZ: Herr Tschudin, wie steht das Fricktal heute aus aumplanerischer Sicht da?
Oliver Tschudin:
Zurzeit sind viele Fricktaler Gemeinden daran, ihre Bau- und Nutzungsordnung zu revidieren. Im Rahmen dieser Revision wird der kantonale Richtplan umgesetzt. Ein Schwerpunkt ist die innere Verdichtung. Die Gemeinden müssen sich überlegen, wie dies am besten gemacht wird. Was man dabei feststellt: Die Fragen der Qualität der Bauten und Freiräume muss man stärker in den Vordergrund stellen. Das Fricktal ist damit in guter Gesellschaft mit anderen Regionen des Kantons.

In den vergangenen Jahrzehnten ist im Fricktal sehr viel und teilweise auch sehr schnell gebaut worden. Bieten die aktuellen Revisionen Chancen?
Ja, auf jeden Fall. In der Vergangenheit lief die Entwicklung teilweise sehr rasant und zum Teil wenig kontrolliert. Das hat man jetzt gemerkt. Deswegen ist es nun wichtig, dass man mit den neuen Bau- und Nutzungsordnungen den Gemeinderäten ein Werkzeug in die Hand gibt, damit sie Qualität einfordern können. Das ist mir persönlich ein wichtiges Anliegen. Mit hohem Tempo kann man nicht so sorgfältig arbeiten, wie es nötig wäre.

Bedeutet dies auf der anderen Seite, dass es künftig für Bauherren schwieriger wird, ein Projekt umzusetzen?
Wenn sich die Bauherren auf den Qualitätsprozess einlassen und frühzeitig mit der Gemeinde zusammenarbeiten, dann wird es nicht schwieriger. Schwieriger wird es nur dann, wenn Projekte ohne den Kontakt mit der Gemeinde schon weit fortgeschritten sind und dann nochmals grundsätzlich überarbeitet werden müssen.

Was ist in den vergangenen Jahren schlecht gemacht worden, was sieht man heute anders?
In vielen Gemeinden im Fricktal – aber auch in der übrigen Schweiz – hat man in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in die Fläche gebaut. So sind viele neue Quartiere oft am Dorfrand entstanden. Es ist halt einfacher, auf der grünen Wiese zu bauen als im bestehenden Siedlungsgebiet zu optimieren. Das hat dazu geführt, dass in einigen Gemeinden, vor allem im ländlichen Raum, Situationen entstanden sind, die aus Sicht des Landschaftsbilds nicht befriedigend sind. Das hat auch die Bevölkerung gemerkt. Deswegen sind die gesetzlichen Grundlagen geändert worden.

Gerade Vertreter von kleineren Gemeinden äussern sich aber teilweise kritisch, weil sie den Eindruck haben, dass die künftige Entwicklung nur noch in den Zentren möglich und erwünscht ist
In ländlichen Gemeinden ist eine Entwicklung auch möglich, aber im Bestand. Dort gibt es oftmals noch grosse Reserven in der bestehenden Bauzone. Da ist die Entwicklung natürlich ein bisschen anspruchsvoller. Das Problem in den ländlichen Gemeinden ist nicht, dass dort nicht gebaut werden kann, sondern, dass die Nachfrage schwächer ist.

Wie nehmen Sie als Raumplaner das Fricktal wahr?
Das Fricktal hat im unteren Teil starken Bezug zur Stadt Basel. Hier gibt es typische Agglomerationsgemeinden mit all ihren Stärken und Herausforderungen. Im oberen Fricktal ist die Region eher ländlich geprägt. Das ist aber durchaus eine hohe Qualität. Wichtig ist, dass nicht überall alles sein muss. Früher bestand die Idee, dass jede Gemeinde einen Anteil Gewerbe und einen Anteil Industrie haben soll und es überall eine ähnliche Entwicklung gibt. Das ist nicht nötig. Davon kommt man heute weg. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, dass man nicht nur bis an die Gemeindegrenze plant, sondern in zusammenhängenden Räumen denkt. Dann spielt es auch nicht mehr eine so grosse Rolle, ob das Gewerbegebiet in der einen oder anderen Gemeinde ist. Wichtig ist, dass es in der Region gut funktioniert. Raumplanung ist deshalb mehr als nur die Rahmenbedingungen für das Bauen zu schaffen.

Das sehen aber nicht alle Gemeinderäte so.
Ich glaube, in dieser Frage hat es einen grossen Wandel gegeben. Das Wachstum steht nicht mehr überall im Zentrum. Gerade die Bevölkerung will oftmals nicht, dass ihre Gemeinde zu stark wächst. Die Qualität steht im Vordergrund.

Die bisherigen Einwohner einer Gemeinde haben tatsächlich oftmals kein Interesse, dass weiter gebaut wird. Das bringt ja nur Lärm und Verkehr. Kann diese Haltung die Lösung sein?
Wenn jeder nur für sich schaut, dann gibt es kein Ganzes. Dies ist ein wichtiger Grundsatz in der Raumplanung. Wenn jeder Bürger nur für sich schaut, dann lebt die Gemeinde nicht. Wenn jede Gemeinde nur für sich schaut, dann funktioniert die Region nicht. Ein qualitatives Wachstum kann auch für die Leute, die schon in einer Gemeinde wohnen, positiv sein. Das ermöglicht zusätzliche Infrastruktur, von der alle profitieren. Bei der Raum- und Siedlungsentwicklung geht es auch darum, die richtige Nutzung am richtigen Ort zu ermöglichen. Die Raumplanng soll sich daher nicht nur um die «Hardware», sondern auch um die «Software» kümmern. Damit meine ich zum Beispiel Quartiertreffpunkte, Begegnungsorte für die Bevölkerung und qualitativ gute Freiräume. Die Leute haben das Bedürfnis, sich zu begegnen und sich zu treffen – auch unorganisiert und spontan. Dafür braucht es eine Siedlungsentwicklung, die sich auch um die Nutzung kümmert. Das ist eine Aufgabe, welche auch die Gemeindebehörden wahrnehmen müssen.

Wie gut funktioniert im Fricktal die Planung über die Gemeindegrenze hinaus?
In meiner Beobachtung hat das Bewusstsein dafür zugenommen. Es gibt das Beispiel im Sisslerfeld, das mehrere Gemeinden gemeinsam planen. Rheinfelden und Möhlin planen heute ebenfalls gemeinsam und dann gibt es natürlich die Gemeinden im oberen Fricktal, die sich sogar zusammengeschlossen haben. Es ist in relativ kurzer Zeit viel passiert.

Stichwort Sisslerfeld: Was macht dort aus Sicht eines Raumplaners Sinn?
Das Sisslerfeld ist heute reserviert für eine gewerbliche und industrielle Nutzung. Dort sollen Arbeitsplätze mit einer hohen Wertschöpfung entstehen. Das scheint mir vernünftig. Wir brauchen in Zukunft im Fricktal auch noch Flächen, wo gearbeitet werden kann. In der Vergangenheit sind viele Mischflächen nur für das Wohnen verwendet worden. Das war für die Investoren relativ einfach, weil die Nachfrage gross war. Natürlich ist derzeit die Nachfrage nach Industrie- und Gewerbeflächen nicht sehr stark, das kann sich aber wieder ändern.

Der Verkehr ist bei jeder Entwicklung ein grosses Thema. Wie sehen gute Lösungen aus?
Gleiche Technik und immer mehr – das wird beim Verkehr nicht funktionieren. Ich glaube, das ist für viele Menschen nachvollziehbar. Es wird neue Lösungen und gewisse Verhaltensveränderungen brauchen. Ich bin überzeugt, wenn man den Verkehr mit gewissen Veränderungen wie zum Beispiel teilweisem Homeoffice und ähnlichem auch nur leicht reduzieren könnte, würde die heutige Infrastruktur ausreichen.

Heute geht es aber noch in die andere Richtung
Das ist so. Eine Reduktion ist aber nicht unmöglich.

Im Zusammenhang mit dem steigenden Verkehrsaufkommen ist eine neue Rheinbrücke im Raum Sisseln ein Thema. Wäre dies sinnvoll?
Diese neue Rheinbrücke ist als Vororientierung im Richtplan enthalten. Das bedeutet, es handelt sich dabei um ein Projekt, das vielleicht irgendwann einmal kommt. Man muss diese Brücke sicher im Zusammenhang mit der Entwicklung des Sisslerfelds betrachten. Mir ist es ein Anliegen, dass die ganze Verkehrssituation im Fricktal stärker als heute grenzüberschreitend betrachtet wird.

Wie beurteilen Sie denn die heutige grenzüberschreitende Zusammenarbeit?
Ich würde mir eine deutliche Verstärkung dieser Zusammenarbeit wünschen. Das ist nicht einfach, weil es verschiedene Länder und Systeme sind. Ich bin aber überzeugt, dass es sich lohnen würde – für beide Seiten. Es braucht dazu aber den politischen Willen.

In Frick, Rheinfelden, Möhlin, Kaiseraugst und auch in anderen Gemeinden gibt es Pläne für grosse Bauprojekte. Kann das immer so weitergehen?
Wenn im Fricktal gebaut wird, dann bedeutet dies, dass Menschen gerne hierher kommen, um hier zu leben. Solange mit Qualität gebaut wird und gewisse Quartiere aufgewertet werden, ist dies nichts Schlechtes. Derzeit sieht es eher danach aus, dass die Entwicklung etwas langsamer läuft als dies der Kanton prognostiziert hatte. Das Fricktal wird aber weiter wachsen, weil es attraktiv ist. Davon gehe ich aus.

Wo ist aus raumplanerischer Sicht der ideale Standort für die geplante Mittelschule?
Das Wichtigste ist, dass die Mittelschule ins Fricktal kommt. Denn eine solche Schule bietet viel Potential, auch für eine Identifikation und ein Wir-Gefühl. Dort, wo die Schule schliesslich realisiert wird, kann sie eine positive Entwicklung auslösen. Jeder der drei Standorte, die zur Diskussion stehen (Anmerkung der Redaktion: Frick, Stein und Möhlin/Rheinfelden) hat Potential für eine Entwicklung. Im Idealfall wird die Schule auch die Siedlungsentwicklung positiv beeinflussen. Das ist nicht bei jedem Standort gleich ausgeprägt.
In der weitern Evaluation soll untersucht werden welche Vorteile die jeweiligen Standorte für die Siedlungsentwicklung haben. Diese Untersuchungen sind noch im Gang. Grundsätzlich gibt es für alle drei Standorte Argumente, die neben den raumplanerischen auch anders Aspekte umfassen.

Zum Schluss: Was wünschen Sie sich für das Fricktal?
Ich wünsche mir, dass die Zusammenarbeit gestärkt wird. Es sollte möglich sein, die Gemeindegrenzen für raumplanerische Fragen ausblenden zu können. So kommt man zu besseren Lösungen. Generell wünsche ich mir, dass man in allen Gremien verstärkt nach gemeinsamen Lösungen sucht und nicht die Probleme, die es sicher gibt, ins Zentrum rückt.

Der Rheinfelder Oliver Tschudin ist Partner und Geschäftsführer der Firma «Planar AG für Raumentwicklung» in Zürich. Die Firma betreut verschiedene Fricktaler Gemeinden bei der Revision der Zonenplanung. Von 2006 bis 2013 war er Stadtrat in Rheinfelden und dort für das Bauwesen zuständig


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