Druck aus dem System nehmen
16.06.2020 Aargau, SchuleBildungsdirektor Alex Hürzeler über Schliessung und Öffnung der Schulen
Regierungsrat Alex Hürzeler ist stolz auf das Aargauer Bildungssystem. In den aussergewöhnlichen Wochen des Lockdowns und der damit verbundenen Schliessung aller Schulen habe sich gezeigt, wie schnell und flexibel die Volksschule reagieren kann.
Susanne Hörth
NFZ: Herr Hürzeler, wie haben Sie persönlich die Corona-Krise erlebt?
Alex Hürzeler: Am Anfang war alles sehr hektisch und ungewohnt. Es war aber auch eine spannende Phase. Eine, die ja noch nicht fertig ist. Es war aber auch belastend. Das Alltagsleben ist völlig zusammengebrochen. Auf der einen Seite fielen fast sämtliche Termine weg. Dadurch wurde es sicherlich von den Verpflichtungen her etwas ruhiger. Auf der anderen Seite wurden wir intensiv gefordert, alle nötigen Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung umgehend umzusetzen.
Eine dieser Massnahmen war die Schulschliessung. Was geht in einem vor, wenn man eine solche für den ganzen Kanton verfügen muss?
Grundsätzlich ist so etwas in unserer Schweiz ja eigentlich undenkbar. Anders als für die Hochschulen und die Sekundarstufe II habe ich noch Ende Februar ein solches Szenario für den Volksschulbereich für nicht möglich gehalten. Im März zogen die Fallzahlen dann aber rasant an. Es gab kein Lamentieren mehr, es galt zu handeln.
Was war in jenem Moment besonders speziell?
Die Kurzfristigkeit. Der Bundesrat hatte am Freitagnachmittag, 13. März, den Lockdown und damit verbunden die f lächendeckende Schulschliessung ab Montagmorgen, 16. März, verfügt. Das war enorm belastend für uns alle. Es folgte ein sehr intensives Wochenende. Für meine Abteilung, die Schulleitungen vor Ort, die Lehrpersonen und auch die Eltern.
Wie waren die Reaktionen aus der Bevölkerung?
Im Gegensatz zu der Wiedereröffnung der Schulen gab es bei deren Schliessung kaum Kritik. Zu diesem Zeitpunkt war klar: Jetzt gilt es Ernst, es muss gehandelt werden. Was es sicherlich vereinfachte, war, dass es sich um eine vom Bundesrat verfügte ausserordentliche Lage handelte.
Eine nationale Lösung?
Ja. Wir wurden zum Umsetzer. In der Krise braucht es eine klare Führung, die hat der Bundesrat übernommen. Es wäre mit Sicherheit belastender gewesen, wenn die Landesregierung alles den Kantonen überlassen hätte. Daher war es richtig und korrekt, dass der Entscheid auf höchster Ebene gefällt wurde.
Die Schulschliessungen wurden in den Kantonen unterschiedlich angegangen. Im Aargau wurde nicht gleich von Beginn an auf Fernunterricht gesetzt.
Für uns waren in der kurzen Zeit zwischen Verfügung und Umsetzung der Schulschliessung vor allem zwei Punkte wichtig. Die erste Priorität galt dem Aufbau eines Betreuungsangebots an den Schulen. Die zweite dann der Bereitstellung des Übungsmaterials für zu Hause. In der dritten Phase widmeten wir uns dem strukturierten Fernunterricht. Mit diesem wurde nach den Frühlingsferien begonnen.
Was wollte man mit dieser Art des Handelns bewirken?
Für uns galt vor allem: pragmatisch handeln und damit den Druck aus dem System herausnehmen. Dadurch haben wir niemanden überfordert. Die Leute reagierten verständnisvoll, akzeptierten die Entscheidungen. Wichtig war uns auch, möglichst viele Kompetenzen an die Basis zu geben, der Schule vor Ort. Das ist kongruent mit unserer Haltung, die wir auch in Zeiten ohne Corona haben.
Seit 11. Mai wird wieder an den Schulen unterrichtet. Wie haben Sie diese Wiedereröffnung als Bildungsdirektor erlebt?
Grundsätzlich sehr gut. Es herrschte eine gute Stimmung, positiv, motiviert und erwartungsvoll. Und auch sehr gut vorbereitet von den Schulen und ihren Schulleiterinnen und Schulleitern.
Herr Hürzeler, Sie erwähnten, dass es mehr Kritik bei der Wiedereröffnung der Schulen gab als bei deren Schliessung.
Zum Zeitpunkt des Lockdowns wussten wir alle noch nicht viel über das Virus. Nach acht Wochen voller Informationen und unterschiedlichsten Meinungen und Aussagen über die Pandemie waren die Leute verunsichert.
Wie machte sich diese Verunsicherung deutlich?
Angst vor einer Ansteckung und deren Folgen. Ich bekam Reaktionen von Eltern wie auch von Lehrpersonen. Diese Ängste abzuholen, war und ist ein Zusatzaufwand für die Schulen vor Ort wie auch für meine Abteilung Volksschule.
Das Bildungsdepartement wurde auch kritisiert, weil der Aargau die Schulen wieder für die ganzen Klassen nach Stundenplan geöffnet hat. Warum wurde so entschieden?
Das hat sich als ein absolut richtiger Entscheid erwiesen. In der Deutschschweiz, mit Ausnahme von Zürich und St. Gallen, haben alle Kantone so entschieden. Wir taten dies in Abstimmung mit den Schulverbänden, insbesondere mit dem Schulleiterverband. Einerseits bestand aus virologischer Sicht keine Notwendigkeit, andererseits kam für uns eine Hybridlösung, also teils Präsenzunterricht und teils Fernunterricht, aus organisatorischer Sicht nicht in Frage. Es hätte das System unnötig belastet und überfordert.
Seit einem Monat wird nun wieder unterrichtet. Hat sich alles wieder beruhigt?
Soweit ich das beurteilen kann, ja! Bei uns kamen bisher keine Beschwerden an. Der Schullalltag findet wieder statt, wenn auch unter veränderten, erschwerten Bedingungen. Selbstverständlich sind noch gewisse Ängste vorhanden.
Werden noch Schüler zuhause unterrichtet?
Es gibt vielleicht einzelne Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Uns beim Kanton liegen dazu aber keine Zahlen vor. Die Zuständigkeit hierfür liegt bei den Schulleitungen und Schulpflegen. Im Gespräch mit diesen Eltern gilt es nun, Vertrauen in die Schutzkonzepte vor Ort zu schaffen.
In den acht Wochen mit Fernunterricht wurde auch viel auf die digitale Technik gesetzt. Videokonferenzen zwischen Lehrern und Schülern wurden stellenweise zur Normalität. Gerade Eltern von mehreren Kindern sahen sich mit dem Problem von genügenden Tablets und PCs konfrontiert.
Gerade im Kindergarten und in der Primarschule basiert der Fernunterricht grundsätzlich auf analogen Techniken, also Papier, Dossiers, Arbeitsaufträge für zu Hause. Es war aber eindrücklich zu beobachten, wie schnell und konsequent viele Schulen, insbesondere der Oberstufe, die digitale Technik eingesetzt haben. Dass jede Schule und jede Familie im digitalen Bereich unterschiedlich aufgestellt war, vereinfachte dies zwar nicht, war mit etwas Flexibilität aber organisierbar.
Müsste da die Schule Aargau nicht schnellstens aufrüsten?
Manche Gemeinden haben sicher die Corona-Zeit genutzt, um die Digitalisierung an der Schule zu forcieren. Die Gemeinden sind es ja, die zuständig für die Schulinfrastruktur und das Mobiliar wie etwa Wandtafeln, Nähmaschinen und eben auch PCs und Tablets sind.
Sind letztere nicht längst Teil des Schulalltages?
Im August wird bei uns der Lehrplan 21 eingeführt. Er beinhaltet auch das Fach Informatik und Medien. Dadurch, dass wir schweizweit der letzte Kanton sind, der den Lehrplan 21 einführt, sind unsere Schulen bei der digitalen Ausrüstung zum Teil noch etwas im Rückstand. Aber auch der neue Lehrplan baut nicht auf eine f lächendeckende Digitalisierung und das ist gut so. Die digitale Technik ist ein neues Werkzeug an der Schule. Die Schüler und die Lehrpersonen wachsen damit in den Schulalltag hinein. Ebenso sicher ist aber auch, dass ein digitaler Fernunterricht nie den Präsenzunterricht vor Ort im Schulhaus ersetzen wird.
Im Aargau wurden schriftliche Matuarprüfungen trotz geschlossener Schulen durchgeführt. Andere Kantone verzichteten auf diese Prüfungen. Warum in unserem Kanton nicht?
Das gehörte sicher zu der grössten Aufgeregtheit im April. Auch deshalb, weil es hier keine nationale Lösung gab. Wir gehörten zum Glück nicht, wie etwa das Tessin, zu den durch das Virus überdurchschnittlich belasteten Kantonen. Dort waren die Zahlen markant höher, das öffentliche Leben war dort stärker belastet als bei uns.
In der Deutschschweiz gab es diese Not nicht. Deshalb haben wir uns für die Kompromisslösung entschieden, auf die mündliche Prüfung zu verzichten, die schriftliche Maturaprüfung hingegen durchzuführen.
Der richtige Entscheid?
Mit Sicherheit. Die Maturaprüfung ist ein wichtiger Meilenstein in der Bildungskarriere einer jeden Kantischülerin und eines jeden Kantischülers. Sie bildet einen elementaren Teil zur Erreichung der allgemeinen Hochschulreife. Es gab keinen guten Grund darauf zu verzichten und auch keine Not. Dank den leeren Schulhäusern konnten die geltenden Schutzmassnahmen problemlos eingehalten werden. Ich hätte es zudem als höchst unfair empfunden, den gut vorbereitenden Lernenden nach dreieinhalbjähriger Vorbereitung diese Prüfungen vorzuenthalten.
Hat sich die Aufregung wieder gelegt?
Ich denke schon. Ende Mai, anfangs Juni wurden die Prüfungen beendet. Zwischenzeitlich haben wir sogar die Rückmeldung, dass es deutlich weniger Nichtantretende und damit weniger Nachprüfungen als in den Vorjahren gab.
Was haben die Corona bedingten Ausnahmewochen auch an positiven Erkenntnissen bei Ihnen hinterlassen?
Was mich persönlich sehr freut, ist die Erkenntnis, dass allen Unkenrufen zum Trotz die Schulen zeigen und beweisen konnten, wie flexibel und belastbar unser Schulsystem ist und wie schnell eine eingespielte Schule zur Not auch aus der Distanz funktionieren kann. Vielen ist dadurch wieder bewusst geworden, wie wertvoll eine öffentliche und gut funktionierende Volksschule für unsere Gesellschaft ist.
Es waren nicht planbare Umstände, die zur Schliessung geführt haben. Das System ist in diesen Wochen nicht zusammengebrochen. Trotzdem sind alle nun froh, wieder weitestgehend normalen Unterricht vor Ort durchführen zu dürfen.
Fernunterricht nicht gleich Homeschooling
Während der vom Bund beschlossenen Schulschliessung wurde oft in Zusammenhang mit dem Unterricht zu Hause das Wort Homeschooling verwendet. Bildungsdirektor Alex Hürzeler präzisiert: «In diesen aussergewöhnlichen Wochen fand ein Fernunterricht statt. Bei Unterricht aus der Distanz ist der Lehrauftrag weiterhin bei der Lehrperson, nicht etwa bei den Eltern. Diese waren für die Betreuung und die zur Verfügungstellung eines möglichst geeigneten Arbeitsplatzes für das Kind verantwortlich.»
Beim Homeschooling hingegen oder der privaten Schulung, wie es in der Regel genannt wird, geht der Lehrauftrag (nach Lehrplan) an die Eltern, die Pflegeeltern oder Drittpersonen über. «Im Vergleich zu anderen Kantonen gilt hierzu im Aargau eine eher liberale Haltung. Unsere gesetzliche Regelung lässt dies zu.» Im Aargau werden laut Regierungsrat Alex Hürzeler rund 250 von insgesamt 76000 Schülerinnen und Schülern zuhause unterrichtet. Während für die private Schulung von Primarschulkindern keine besonderen Bildungsvoraussetzungen von den Eltern, Pflegeeltern oder Drittpersonen verlangt werden, wird ab der Oberstufe die Matur oder eine höhere Berufsbildung vorausgesetzt. (sh)