Die Angst ist ihr ständiger Begleiter

  17.08.2022 Persönlich, Rheinfelden

Ukrainisches Ehepaar bangt um ältere Tochter

Seit Juli leben Natalia und Vitalii Checheliuk mit ihrer jüngeren Tochter und der Grossmutter in Rheinfelden. Sie sind vor dem Krieg geflohen. Ihre ältere Tochter ist in russischer Gefangenschaft. Die Sorge um das Leben ihres Kindes lässt sie niemals los.

Valentin Zumsteg

«Wir hatten ein gutes Leben in der Ukraine», erzählt Vitalii Checheliuk. In Mariupol, wo er mit seiner Familie lebte, führte er ein eigenes Elektrogeschäft. Zusammen mit seiner Frau Natalia besass er mehrere Häuser und Wohnungen. Zudem gehörte ihnen eine Hühnerfarm ausserhalb der Stadt. «Es ging uns gut», sagt Natalia Checheliuk. Ihre jüngere Tochter, Alina (16), ging zur Schule. Mariana (22), die ältere Tochter, arbeitete seit kurzem bei der Polizei. Doch am 24. Februar änderte sich alles. Russland griff die Ukraine an, Bomben fielen auf Mariupol und auf andere Städte. «Frühmorgens sind wir durch die Explosionen geweckt worden. Die Scheiben haben gezittert», berichtet Vitalii.

«Brüder kämpfen gegen Brüder»
Der Kriegsausbruch kam für sie unerwartet. «Wir hatten nicht damit gerechnet, dass uns Russland angreift. Wir haben es nicht für möglich gehalten, dass es im 21. Jahrhundert noch Krieg gibt. Das hat keine Logik. Hier kämpfen Brüder gegen Brüder.» Die Familie verblieb vorerst in Mariupol, in der Hoffnung, dass die Kampfhandlungen bald eingestellt würden. Schon 2014 gab es eine Attacke auf die Stadt, die nach zwei Tagen beendet wurde. Doch diesmal war es anders. Das Leben wurde immer schwieriger, sie suchten Schutz in Zivilschutzanlagen. Als Vitalii zusammen mit seinen Töchtern eines Morgens Wasser holen ging, gerieten sie in Kampfhandlungen. Vitalii wurde von seinen Kindern getrennt. Diese flüchteten ins Asow-Stahlwerk, wo auch andere Ukrainer Schutz suchten. Vitalii kehrte zu seiner Frau zurück. Erst Wochen später konnten die Kinder das Stahlwerk verlassen, wurden aber von Russen überprüft. Während die jüngere Tochter nach einiger Zeit wieder freikam und von den Eltern abgeholt werden konnte, steckten die Russen die ältere Tochter ins Gefängnis – wahrscheinlich, weil sie bei der ukrainischen Polizei gearbeitet hatte. «Unsere Tochter ist unschuldig, sie hat nie gekämpft», sagt Natalia.

Als die Situation in der Ukraine immer dramatischer wurde, beschlossen Vitalii und Natalia schliesslich, das Land zu verlassen. Zusammen mit der jüngeren Tochter und der Mutter von Natalia flohen sie zuerst nach Polen, dann über Deutschland in die Schweiz. Seit Juli wohnen sie jetzt im Rheinfelder Dianapark.

«Ein Teil meines Herzens ist herausgerissen»
Von Mariana, der älteren Tochter, haben sie während Monaten nichts gehört. Vergangene Woche kam dann plötzlich ein Anruf von ihr. Sie durfte aber nur kurz reden. «Sie sagte, es gehe ihr gut. Doch als Mutter habe ich gemerkt, dass dies nicht stimmt, dass sie das nur sagt, um uns zu beruhigen», sagt Natalia. Nach wie vor ist Mariana in Gefangenschaft. Vitalii und Natalia haben schon vieles versucht, um sie freizubekommen. Sie haben sich an unzählige Stellen gewendet: den ukrainischen Staat, das Rote Kreuz, Hilfsorganisationen und Politiker. «Ein Teil meines Herzens ist herausgerissen, ich kann mich über nichts mehr freuen, immer denke ich an Mariana. Für uns ist das Leben der Tochter das Wichtigste», sagt Natalia. Sie lebt in ständiger Angst, dass etwas Schreckliches passiert.

Vitalii und Natalia erzählen ihre Geschichte auf Russisch, das ist ihre Muttersprache. Immer wieder f liessen Tränen, wenn sie an ihre Tochter in Gefangenschaft denken. Der Rheinfelder Michael Derrer, der sowohl Russisch als auch Ukrainisch spricht, übersetzt das Gespräch. Er hat Vitalii seit kurzem als Handwerker und Mitarbeiter für das «Bohème Café» eingestellt, das er zusammen mit seiner Lebenspartnerin Atia Miraz demnächst an der Kupfergasse eröffnen wird.

Ob das Ehepaar je wieder in die Ukraine zurückkehren kann, ist ungewiss. Es besteht die Gefahr, dass er als Deserteur betrachtet und zur Rechenschaft gezogen wird. «Hätte ich eine Waffe gehabt, hätte ich gekämpft», sagt er dazu. Mit Blick auf die Zukunft haben Natalia und Vitalii nur einen Wunsch: Ihre Tochter bald wieder in die Arme schliessen zu können.


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