Lebendige Geschichte, Handwerkskunst und Biodiversitätshotspot
09.02.2022 Aargau, NaturWenn wir an Trockenmauern in der Schweiz denken, fallen uns spontan wilde Berglandschaften aus dem Tessin oder Graubünden ein. Trockenmauern prägen aber auch die traditionelle Kulturlandschaft im Aargau, insbesondere am Jurasüdfuss. Der Jurapark Aargau setzt sich für den Erhalt und die Sanierung der historisch und ökologisch wertvollen Trockenmauern ein. Dieser Beitrag zeigt, wie die alte Handwerkskunst des Trockenmauerbaus gelebt wird.
Eva S. Frei, Jurapark Aargau
Viele der Aargauer Trockenmauern sind jahrhundertealte Zeitzeugen aus dem Mittelalter. Bekannt für eine hohe Dichte an Trockenmauern auf kleinstem Raum ist das Schenkenbergertal mit dem weitherum sichtbaren Schloss Kasteln in Oberf lachs, Gemeinde Schinznach. Trockenmauern wurden damals – wie grösstenteils auch heute noch – in mühsamer Handarbeit gebaut und sind wichtige Elemente der Aargauer Kulturlandschaft. Die langen «Steinschlangen» der Bergregionen oder im Westschweizer Jura dienen hauptsächlich als Grenzmauern oder Weidezäune. Die Trockenmauern im Aargauer Jura hingegen sind typischerweise Stützmauern in Rebbergen oder säumen historische Verkehrswege.
Allein im Jurapark Aargau sind gut 90 Kilometer solch historisch bedeutender Verkehrswege (Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz) bekannt. Im Zusammenspiel mit den gut erhaltenen, alten Dorfkernen von nationaler Bedeutung (Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz) machen sie Geschichte konkret erlebbar. Die historischen Verkehrswege dienten einerseits der Bewirtschaftung des Waldes und der landwirtschaftlich genutzten Flächen, andererseits als Verbindungswege wie beispielsweise am Chalm in Schinznach. Stein auf Stein wurden diese Mauern ohne Mörtel gebaut. Ihre jahrhundertelange Stabilität verdanken sie allein der Geschicklichkeit und Handwerkskunst ihrer damaligen Erbauer.
Hotspots für Biodiversität
Neben ihrer kulturell-historischen und landschaftlichen Bedeutung sind Trockenmauern wichtige Lebensräume für viele Tiere und Pflanzen. Insbesondere alte und teilweise zerfallene Trockenmauern, begleitet von blütenreichen Krautsäumen und Klein strukturen wie Dornsträuchern oder Asthaufen, beherbergen eine ganz eigene Lebensgemeinschaft. Auf den Steinen sonnen sich Reptilien wie Schlingnattern oder Zauneidechsen und auf der Mauerkrone wachsen unterschiedliche Flechtenarten in den buntesten Farben. In den unverputzten und darum besonders wertvollen Mauerritzen konkurrenzieren Streifenfarne und wärmeliebende Blütenpf lanzen wie Mauerpfeffer oder das Zimbelkraut um den besten Platz. Die Mauerspalten werden auch sehr gerne als Winterquartiere, Versteck- oder Brutplätze von Käfern, Spinnen, Schnecken, Mörtelbienen und anderen Kleinlebewesen genutzt. Seltenen Schmetterlingsarten dient das günstige, windgeschützte und warme Mikroklima an Pflanzen in Mauernähe für die Eiablage. Als lineare Elemente in der Kulturlandschaft sind Trockenmauern ein wichtiger Bestandteil der ökologischen Infrastruktur für verschiedene Tierarten. Entlang von Trockenmauern können sie sich gut geschützt vor Fressfeinden fortbewegen und sich so mit anderen Beständen ihrer Art vernetzen. Noch heute werden Trockenmauern nach früherem Vorbild ohne künstlichen Verputz gebaut. Im Aargau werden heutzutage allerdings nur wenige neue Mauern errichtet, wie etwa 2017 und 2018 in Wittnau im Fricktal. Dort haben Freiwillige aus der ganzen Schweiz im Rahmen von zwei Trockenmauer-Bauwochen der Stiftung Umwelteinsatz Schweiz (SUS) gemeinsam mit Vertretern des lokalen Natur- und Vogelschutzvereins eine rund 30 Meter lange Trockenmauer neu errichtet. Viel häufiger sind jedoch Mauersanierungen. Jedes Jahr werden im Aargau Trockenmauern wieder instand gestellt, das heisst teilweise oder ganz neu gebaut. Dabei werden die alten Steine, wenn immer möglich, wiederverwendet oder regionale Steine wie etwa Malmkalksteine aus Jurasteinbrüchen verarbeitet. Die Arbeit ist sehr zeitintensiv und entsprechend teuer. Realistisch geschätzt kann etwa ein Kubikmeter pro Tag gebaut werden, was je nach Komplexität der notwendigen Arbeiten zwischen 600 und 1500 Franken kostet. Finanziert wird die Sanierung von Trockenmauern im Jurapark Aargau durch Beiträge von Bund, Kanton, Gemeinden, Grundeigentümern, Bird-Life und Pro Natura sowie dem Jurapark Aargau und diversen Stiftungen. Der Bau von Trockenmauern ist eine Wissenschaft für sich und verbindet handwerkliche Geschicklichkeit mit Kunst.
Ist Trockensteinmaurer und -maurerin also ein Traumberuf? Für Philipp Merkli, gelernter Landschaftsgärtner und Trockenmauer-Spezialist, ist der Fall klar: Für ihn sei dies nicht ein Beruf, sondern vielmehr seine Passion. Er liebe die Arbeit an der frischen Luft, obwohl er allen Witterungen ausgesetzt ist, von Hitze bis zu feuchten und kühlen Bedingungen. Auch das exakte Arbeiten beim Bau von Trockenmauern behagt ihm. Das präzise Zuschlagen und zentimetergenaue Schichten der Steine ist harte Knochenarbeit. Es braucht ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen, damit sich die neue Trockenmauer gut in die Umgebung der Landschaft einfügt und auch stabil ist. Letzteres bedeutet, dass eine Mauer ungefähr doppelt so hoch gebaut wird, wie das Fundament breit ist. Als Fachexperte mit langjähriger Erfahrung führt Philipp Merkli auch regelmässig Zivildienstleistende in die Thematik ein. Als Faustregel gilt, dass die Artenvielfalt mit dem Alter und Zerfall einer Trockenmauer steigt. Deshalb wird bei der Sanierung von Trockenmauern der Spagat gemacht zwischen dem Erhalt des historisch wertvollen Baudenkmals und dem ökologisch wertvollen Lebensraum. Beim Projekt des Juraparks Aargau am Chalm bei Schinznach wurden deshalb unterschiedliche Ziele verfolgt. Einerseits wurde die historische Bausubstanz der Trockenmauern entlang kulturhistorisch bedeutender Verkehrswege erhalten und saniert. Diese sollen nach Abschluss der Arbeiten für die Bevölkerung und Naherholungssuchende in einem Rundweg erlebbar gemacht werden. Andererseits wurden als ökologische Aufwertungsmassnahmen die angrenzenden Waldparzellen und Waldränder für licht- und wärmeliebende Tier- und Pflanzenarten ausgelichtet und aufgewertet. Ausgewählte Mauerabschnitte wurden bewusst in ihrem alten Zustand belassen oder wurden nur stellenweise renoviert, während andere komplett ersetzt und neu gebaut wurden. Sind die alten Steine für die Wiederverwendung der neuen Trockenmauer zu brüchig, werden sie in der Nähe zu ökologisch wertvollen Steinhaufen für Reptilien aufgeschichtet. Da Schinznach am Jurasüdfuss zu den klimatischmildesten Gebieten im Aargau zählt, sind zudem in einer Trockenmauer spezielle Nistnischen für den seltenen Wiedehopf eingebaut worden.
Wer selbst Interesse hat, einmal an einer Trockenmauer mitzubauen: Die Stiftung Umwelt-Einsatz-Schweiz (SUS) bietet regelmässig Kurse an. (www.umwelteinsatz.ch)
Das kleine ABC zum Bau einer Trockenmauer
Bauprinzip: Steine passgenau behauen und ohne Mörtel aufeinanderschichten, sodass sie nicht wackeln und nicht zu grosse Lücken entstehen. Steine versetzt platzieren, damit das Regenwasser gut ablaufen kann, nach dem Prinzip: einen Stein auf zwei Steine setzen, danach zwei auf einen. Werkzeug: Fäustel, Meter, Setzer, Richtschnur, Brech-/Hebeisen. Material: regionale Steine (im Jura meist Kalksteine), fünf Typen: Fundamentsteine: Gross, flach und solide – als Fundament einer Trockenmauer tragen sie das gesamte Gewicht der Mauer. Bausteine: möglichst ohne Spitzen, platt bzw. mit mindestens einer flachen Seite. Füllsteine: nur bei Bedarf, als Unterlage der Bausteine. Decksteine: gross, platt, zuoberst auf der Mauerkrone. Binder: Lange, flache Steine, die nur bei hohen Mauern (höher als 1,3 Meter) zur Verbindung der Frontsteine mit der Hintermauerung eingesetzt werden. Detaillierte Bauanleitungen sind in der Publikation der Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz «Trockenmauern – Grundlagen, Bauanleitung, Bedeutung», Haupt Verlag, zu finden. (mgt)